Krankheit von Körper und Seele - 60 Jahre Anonyme Alkoholiker
München (dpa) - Seit 60 Jahren gibt es die Anonymen Alkoholiker in Deutschland. Zu verdanken ist das US-amerikanischen Soldaten, die 1953 in München die erste AA-Gruppe gründeten. Heute beklagt die Organisation geringe Mitgliederzahlen - und das ist kein Grund zur Freude.
Es ist eine illustre Runde: Die Hollywood-Stars Lindsay Lohan und Mel Gibson, Sängerin Liza Minnelli und Topmodel Naomi Campbell haben eins gemeinsam: Sie suchten Hilfe bei den Anonymen Alkoholikern. „AA-Meetings“ sind in den USA gang und gäbe, so scheint es. Dort wurde die Organisation 1935 gegründet - von einem Chirurgen und einem Börsenmakler in New York. Nach Deutschland kamen die AA dank der US-amerikanischen Besatzungssoldaten. Im Jahr 1953 riefen sie in einer Zeitungsannonce zur ersten Versammlung am 1. November im Hotel Leopold in der Münchner Innenstadt auf. Das ist jetzt genau 60 Jahre her; die Anonymen Alkoholiker in Deutschland feiern in diesem Jahr Jubiläum.
Und in ihrem Jubiläumsjahr beklagen sie geringe Mitgliederzahlen. Das ist keineswegs ein Grund zur Freude, denn das hat nicht etwa etwas damit zu tun, dass es zu wenig Alkoholiker gäbe. Rund 1,3 Millionen Menschen in Deutschland sind laut Bundesregierung alkoholabhängig, mehr als 9 Millionen trinken Alkohol „in gesundheitlich riskanter Form.“ Aber nur rund zehn Prozent der Abhängigen machen eine Therapie. Bei den Anonymen Alkoholikern, die mit ihrem „Zwölf Schritte“-Programm immer wieder Erfolgsgeschichten trockener Mitglieder feiern können, sind noch viel weniger.
Etwa 25 000 Menschen gehen ihren Angaben zufolge zu Treffen einer der deutschlandweit rund 2400 AA-Gruppen. Ein Großteil der 1,3 Millionen Betroffenen aber, so sagt AA-Mitglied Peter aus München, säuft sich einfach zu Tode. Laut Bundesregierung sterben pro Jahr 74 000 Menschen an den direkten und indirekten Folgen ihres Alkoholmissbrauchs.
Den größten Anteil (rund 32 Prozent) der AA-Mitglieder machen im deutschsprachigen Raum Menschen zwischen 51 und 60 Jahren aus, rund ein Drittel sind nach AA-Angaben Frauen. Mehr als 35 Prozent der Mitglieder sind Rentner, gefolgt von Angestellten und Beamten (24 Prozent) sowie Freiberuflern (11 Prozent). Nach Angaben der Al-Anon-Familiengruppen, in denen sich die Angehörigen von Suchtkranken innerhalb der AA zusammentun, hat ein Großteil der Abhängigen Alkoholmissbrauch bereits in der Familie direkt miterlebt.
Die 60-jährige Renate ist so ein typischer Fall, so makaber das klingt. „Mein Vater hat sehr viel getrunken, meine Schwester hat getrunken“, sagt sie. Ihr Vater habe sich schließlich zu Tode gesoffen, Renate war die Letzte, die ihn im Krankenhaus sah. „Man kann sich nicht vorstellen, wie ein Alkoholkranker endet. Furchtbar.“ Peter, seit mehr als 30 Jahren trocken, sagt: „Die Krankheit erfasst den ganzen Menschen, Körper, Geist und Seele.“
Und trotzdem begann auch Renate zu trinken - nur kurz nach dem Tod ihres Vaters und kurz nach der Geburt ihrer zweiten Tochter. Sie habe immer Bier getrunken, über den Tag verteilt hier und da eins oder mal zwei. Und dann: „Eines Tages bin ich in der Früh aufgewacht und musste Bier trinken“, erinnert sie sich. „Dann begann mein Dilemma und der Kampf.“ Ab 1987 war sie dann „voll drin“. „Am Schluss stand immer ein Glas Bier irgendwo.“
Sie hatte Ausfälle, konnte manchmal morgens nicht aus dem Bett aufstehen. Einmal sei sie betrunken mit ihrem Auto von der Straße abgekommen - auf dem Rücksitz saßen ihre beiden Töchter. Irgendwann zog ihr Mann die Reißleine und schickte sie zu den Anonymen Alkoholikern. „Ich habe mich natürlich geniert“, sagt sie. „Ich heiße Renate und ich bin Alkoholikerin“ - es hat Jahre gedauert, bis sie diesen Satz aussprechen konnte. „Beim ersten Mal liefen mir die Tränen übers Gesicht.“ Inzwischen ist sie seit 1995 trocken.
Warum machen das nicht alle so wie Renate? Warum schaffen es so viele nicht, sich in der Gruppe mit ihrer Sucht auseinanderzusetzen? Eine Antwort darauf gab der für seine Alkohol- und Drogenexzesse bekannte Altrocker Ozzy Osbourne einmal, als er in einem Zeitungsinterview nach den Anonymen Alkoholikern gefragt wurde: „Ich kann heute ohne Probleme vor Tausenden Menschen auf einer Bühne stehen, aber Fremden sagen, wie ich mich fühle? Das pack ich nicht.“