Suche nach Nadel im Heuhaufen - Seltene Krankheiten kaum zu behandeln
Cottbus (dpa) - Sie sind so ungewöhnlich, dass kaum ein Arzt sie kennt. Und doch leidet jeder 20. Deutsche an einer seltenen Krankheit. Patienten irren oft jahrelang vergeblich von einem Mediziner zum nächsten.
Das soll sich allmählich ändern.
Als Josephine zur Welt kam, konnte sie nicht selbst atmen, nicht trinken und hatte einen Herzfehler. Die Ärzte standen vor einem Rätsel, denn die Symptome passten so recht zu keiner ihnen bekannten Krankheit. Nach ein paar Wochen entließen sie das Mädchen zwar im besseren Zustand aber doch ratlos nach Hause. Es ist ein klassisches Schicksal von Menschen mit seltenen Erkrankungen: Ihre Krankheit kommt nur sehr sporadisch vor, so dass nicht einmal Fachärzte sie erkennen und behandeln können. Doch weil es tausende dieser Krankheiten gibt, leiden in Deutschland vier Millionen Menschen an ihnen. Der Rare Disease Day (Tag der seltenen Erkrankungen) am Donnerstag (28. Februar) soll auf ihre Situation aufmerksam machen.
Josephine aus Cottbus ist heute acht. Sie kann Fahrrad fahren, liebt Musik über alles, ist kontaktfreudig und lernt gerade schreiben. Inzwischen ist klar: Sie hat das Williams-Beuren-Syndrom - einen extrem seltenen Gendefekt, der unter anderem zu Herzfehlern und Wachstumsstörungen führt, mit dem man aber recht gut leben kann. Doch bis zu dieser Diagnose war es ein weiter Weg.
In den Monaten nach der Geburt ging es Josephine immer schlechter. Die Mutter wurde von einem Arzt zum nächsten geschickt. Schließlich bekam das Mädchen nach einer Fehldiagnose Schilddrüsenhormone. Von den Medikamenten wurde sie nervös, die Angst vor Ärzten wuchs. „Oft hatte ich das Gefühl, dass wir nicht ernst genommen wurden“, erzählt ihre Mutter Stephanie Schulz. „Das war eine ganz deprimierende Zeit.“
Vielen Patienten mit einer seltenen Krankheit geht das so. Sieben Jahre würden sie im Durchschnitt von einem Arzt zum nächsten geschickt, bevor die richtige Diagnose gestellt werde könne, sagt Holm Graessner, Geschäftsführer des Zentrums für seltene Erkrankungen in Tübingen. Viele würden schließlich als Hypochonder abgestempelt, weil ihre Krankenakte immer dicker werde und nichts helfe.
Einen Vorwurf könne man den Medizinern jedoch nicht machen. Als selten gilt eine Krankheit, wenn sie höchstens bei einem von 2000 Patienten auftritt. Das Williams-Beuren-Syndrom, an dem Josephine leidet, tritt einmal bei 20 000 bis 50 000 Neugeborenen auf. „Selbst in einem Fachzentrum sind solche Krankheiten selten“, sagt Graessner.
Dass ein Arzt alle seltenen Erkrankungen diagnostizieren kann, ist deshalb utopisch. Bislang wissen die Experten nicht einmal, wie viele es überhaupt gibt. Zwischen 5000 und 8000 werden es wohl sein. „Ein Arzt muss auch nicht alles kennen und können. Wichtiger ist, dass er ein Bauchgefühl dafür bekommt, wann die Symptome eines Patienten nicht zu den klassischen Erkrankungen passen“, sagt Christine Mundlos von der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (Achse/Berlin), einem Netzwerk von mehr als 100 Selbsthilfeorganisationen.
Die Medizinerin arbeitet als Lotsin an der Berliner Charité und ist Ansprechpartnerin für Kollegen, die bei Patienten nicht weiterkommen. Mundlos versucht dann, einen Fachmann zu finden, der sich der Problematik annimmt. Aber bei manchen Krankheiten gebe es nur ein oder zwei Experten in ganz Europa. Teilweise müsse sie aber trotz aller Bemühungen auch sagen: „Ich kann Ihnen im Moment nicht weiterhelfen“, erzählt sie.
Die Patienten müssten deshalb auch oft viel Eigeninitiative aufbringen. Auch Stephanie Schulz hat sich irgendwann selbst an den Computer gesetzt - und fand im Internet den entscheidenden Hinweis: Ein Selbsthilfeverein für das Williams-Beuren-Syndrom. „Die Symptome passten alle - das war genau meine Tochter“, erzählt sie. Ein Gentest brachte später die langersehnte Gewissheit. Die Schilddrüsenhormone wurden abgesetzt und Josephine ging es besser. Wirklich heilen lässt sich das Syndrom zwar nicht. „Aber wenn man weiß, was es ist, kann man damit eigentlich wunderbar leben“, sagt Schulz.
Selbsthilfeorganisationen sind wegen des Experten-Mangels nach wie vor oft die wichtigsten Adressen für Betroffene. Doch auch im Gesundheitssystem sei manches in Bewegung gekommen, betonen die Experten. Große Stiftungen investieren in die Forschung. In einem Nationalen Aktionsbündnis wird gerade gemeinsam mit der Politik nach Möglichkeiten gesucht, die Versorgung zu verbessern. Pharmafirmen werden damit gelockt, dass die Uniklinken schon einen Großteil der teuren Grundlagenforschung geleistet haben. Doch das alles braucht Zeit. Für Patienten bleibe der Austausch in Selbsthilfegruppen deshalb ein ganz wichtiger Baustein, betont Mundlos.