Möbel mit Kuschelfaktor - Das Comeback des Ohrensessels
Oldenburg (dpa/tmn) - Ein wuchtiger Ohrensessel ist ein Ort zum Zurückziehen und zum Lesen. Seine Klappen auf Kopfhöhe schotten den Nutzer vom Rest des Raumes ab, an die Lehne kann man sich kuscheln.
Damit passt das Möbel besonders gut in moderne, großzügige Wohnungen.
Er stand bei Oma im Wohnzimmer. Häufig direkt am Kamin. Mit der Zeitung in der Hand saß der Opa darin, oder die Oma lehnte sich zurück und strickte. Der Ohrensessel verkörpert den Inbegriff von Gemütlichkeit. Aber was gemütlich ist, galt lange als bieder, konservativ, altbacken - einfach nicht passend für moderne Wohnungseinrichtungen, die geradlinig und puristisch sind. Das ändert sich nun nach und nach. Eines der neuen Trendmöbel ist plötzlich der gute, alte Ohrensessel.
„Er ist die Geborgenheit par excellence“, beschreibt ihn die Wohnexpertin Katharina Semling aus Oldenburg. „Man wird von dem Sessel in seine Arme, also die Lehnen, genommen. Der Kopf ist zwischen den Ohren geschützt.“ In ihn gekuschelt könne man sich in einem großen Zimmer eine Rückzugsecke schaffen - und genau das sei der Grund, warum er wieder von den Wohndesignern aufgelegt wird. Ein Mensch brauche einen gemütlichen Platz im Haus. „Ich empfehle ihn daher besonders für Wohnungen mit viel Glas und offenem Grundriss“, sagt Semling.
Dass der Ohrensessel wie auch andere Einrichtungsgegenstände, die man mit Omas Wohnzimmer assoziiert, nun plötzlich gerne wieder in die Wohnungen und Häuser geholt wird, hat für Gabriela Kaiser einen psychologischen Grund: Wenn sich die Menschen um ihre Existenz sorgen, sich gestresst und von einer schnellen, digitalen Welt überfordert fühlen, brauchen sie Rückzugsorte, erläutert die Trendanalystin aus Weißdorf (Bayern). Die Einrichtungsexperten haben in Zeiten wie der derzeitigen Euro-Schuldenkrise immer schon festgestellt: Das Zuhause wird dann gemütlicher und eher mit altbekannten und daher geschätzten Stücken eingerichtet.
„Das sieht man etwa auch daran, dass die Möbel derzeit wieder runde und geschwungene Formen haben, die als gemütlich wahrgenommen werden. Sofas sind kokonartig“, sagt Kaiser. Auch zu sehen ist es an den Vorbildern, die die Designer nun aufgreifen: Der biedere Perserteppich wird neu aufgelegt, Wandteller aus Omas Zeiten werden zur Dekoration, und gefragt sind Einflüsse aus dem Design der 1950er Jahre - auch damals wurde die Welt schon mal gemütlicher und heimeliger, weil die Menschen Geborgenheit nach dem Krieg brauchten.
Und so findet jetzt eben auch der Ohrensessel seinen Platz im Wohnraum. Aber er erlebt wie die oben genannten Stücke manchmal ein Make-over: Kare hat ein Modell mit kunterbuntem Patchworkstoff überzogen, das Modell „Grande Papilio“ von B&B Italia wirkt eher puristisch und modern als altbacken und wuchtig. Der Sessel lässt sich zudem wie ein Bürostuhl drehen.
Viele Unternehmen haben Relaxsessel im Angebot - quasi der moderne Ohrensessel. Er ist wie FM Munzers Modell 5809 ähnlich geschnitten, hat dicke Lehnen und einen hohen und breiten Rücken. Aber es fehlen ihm die Ohren. Viele Modelle haben auch nicht mehr das massive Aussehen des Stuhls: Sie wirken auf dünnen Füßen filigraner. „Grande Papilio“ und auch das Model 5809 sind auf Taillenhöhe des Sitzenden dünner geschnitten. Auch so wirken sie weniger mächtig.
Ursula Geismann vom Verband der Deutschen Möbelindustrie (VDM) in Bad Honnef bei Bonn erwartet, dass bald noch mehr Hersteller Ohrensessel ins Programm heben. „Die Designer begreifen endlich: Daraus kann man etwas machen.“ Dabei gibt es schon seit längerem Einzelmodelle auf dem Markt, bei denen der typische Stil des klassischen Ohrensessel spielerisch verändert wurde.
Geismann nennt als Beispiel den „Wink“ von Toshiyuki Kita. Er entwarf Ende der 1970er Jahre eine Relaxliege mit den typischen Ohren. Das Besondere daran war, was auch nun viele Hersteller entdecken: Das Modell lässt sich in eine Vielzahl bequeme Positionen bringen. „Bewegliche Elemente wie Armlehnen und Fußteile, auch pfiffige Stoffe machen etwas Besonderes aus den alten Sesseln“, erläutert Geismann die Entwicklung. „Immer mehr Hersteller verstehen, man muss das Piefig-Altdeutsche herausnehmen. Der Ohrensessel muss zum Wellnesssessel werden.“ Denn der Verbraucher von heute ist Komfort gewöhnt.
Das sieht auch Katharina Semling so. Sie erwartet, dass der Ohrensessel unter anderem zum Schaukelstuhl wird - wie es etwa Signet mit „Ole“ schon vormacht. „Ich denke, nach den Ohrensesseln wird die gesundheitsfördernde und beruhigende Funktion des Schaukelns wieder entdeckt. Schaukelstühle werden wieder in die Wohnungen einziehen und Hollywoodschaukeln in den Garten und - das ist wirklich neu - in die Büros.“ Denn wie das Einkuscheln in den Ohrensessel erfülle der Schaukelstuhl ein Grundbedürfnis der Menschen: nach Harmonie und Wohlbefinden. „Man sieht das bei Kindern: Sie sind glücklich, wenn sie schaukeln und kuscheln dürfen.“