eise-Bericht Eine Reise zu den Wolkenmenschen von Peru

In den peruanischen Anden lebten einst die geheimnisvollen Wolkenmenschen. Eine neue Seilbahn verbindet ihre Bergfestung Kuelap nun mit der Zivilisation.

Foto: Oliver Gerhard

Früher Morgen in Cajamarca. Die Luft ist glasklar, der Rauch aus den Kaminen steigt senkrecht in den blauen Himmel. Er vermischt sich mit den Schwaden, die aus Gullys, Kanälen und Abwasserrohren entweichen — ein Nebenprodukt der Baños del Inca, der heißen Thermalquellen, die schon von den Ureinwohnern im Norden Perus genutzt wurden. Aus dem geöffneten Portal der Kathedrale mit ihrer prächtigen barocken Fassade dringt lauter Gesang. Kleine, füllige Frauen mit wettergegerbten Gesichtern treiben Ziegen auf die Weide. Ihre traditionellen Hüte sind so groß wie Ofenrohre. Hühner flattern zur Seite und Straßenhunde kläffen den zwei Geländewagen hinterher, mit denen es aus der 300 000-Einwohner-Stadt geht.

Maisfelder und Eukalyptushaine säumen die Strecke. Die Region ist die einstige Heimat der Chachapoya, eines bis heute rätselhaften Volkes von Ackerbauern und Kriegern. Die Inka, denen sie sich lange widersetzten, nannten sie „Wolkenmenschen“, weil sie vor allem in den Nebelwäldern hoch oben in den Anden lebten. Wer dort zu einer Rundreise aufbricht, entdeckt noch ein Land im Dornröschenschlaf.

Im Herzen der Kordillere, auf 3000 Metern Höhe, liegt die Bergfestung Kuelap, die zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert entstand. Touristiker schwärmen vom „Machu Picchu des Nordens“ oder dem „Angkor Wat Lateinamerikas“. Schon die Anreise ist ein Abenteuer auf einspurigen Straßen am Rand des Abgrunds — mit Höhenunterschieden zwischen 800 und 3600 Metern und Temperaturen von acht bis 35 Grad.

In den 50er-Jahren als Lehmpiste gebaut, wurde die Strecke erst vor vier Jahren asphaltiert. Während der Fahrt wechseln die Klimazonen im Halbstundentakt: Bibbernd vor Kälte steht man auf kahlen, windumtosten Pässen, um eine Stunde später in der Schlucht des Marañón-Flusses in Schweiß auszubrechen. In einem Moment gleitet man durch liebliche Täler, in denen Papayas und Avocados wachsen, wenig später säumen riesige Kandelaberkakteen die Straße.

In Kuelap angekommen, wandert man noch eine halbe Stunde durch den Urwald. Der Überraschungseffekt ist überwältigend, wenn man aus den Bäumen tritt und plötzlich vor 20 Meter hohen, unüberwindlichen Mauern steht. Bei einem Streit über Landrechte im Jahr 1843 stieß der Richter auf diese Stätte. Archäologen legten seitdem mehr als 450 Fundamente frei: Wohnhäuser, Tempel, öffentliche Gebäude. Bis zu 3000 Menschen sollen dort gelebt haben, bis der Puls der Stadt um 1540 zu schlagen aufhörte — vermutlich aufgrund der Pest.

Dorfbewohner über den Wasserfall

Nur eine schmale Pforte führt ins Herz der Stadt. Der betagte Torwächter begrüßt die wenigen Besucher noch mit Handschlag. Moosige Baumstämme krallen sich mit ihren Wurzeln ins Mauerwerk, Flechtenbärte hängen von ihren Ästen. Rot und hellgrün leuchten Bromelien in den Baumwipfeln über den Ruinen. Nach allen Seiten eröffnen sich weite Blicke über Schluchten und Bergspitzen, kleine Dörfer, Maisfelder und Urwaldreste.

Doch nun erwacht Kuelap zum Leben: Anfang März hat eine Seilbahn den Betrieb aufgenommen, die Besucher innerhalb von nur 20 Minuten vom Tal zur Ausgrabungsstätte bringen und so die Anfahrt ersparen soll. Die Meinungen darüber sind geteilt: Während die Regierung einen Aufschwung prophezeit, sind Wissenschaftler skeptisch: „Ich habe Zweifel, ob die Bauwerke das verkraften“, sagt Archäologe Francisco Valle Riestra. „Unsere Arbeiten werden sich zwangsläufig mehr auf die Beseitigung von Schäden konzentrieren als Neues zu erforschen.“

Die Einwohner des nahegelegenen Dorfes Tinga fürchten indessen, dass große Firmen aus Lima am Tourismus verdienen, während sie leer ausgehen. Im nahe gelegenen Cocachimba ist man da schon weiter: Dort profitieren vor allem Einheimische vom Tourismus.

Der erste fremde Gast, ein deutscher Ingenieur, stieß vor zehn Jahren noch auf taube Ohren, als er nach einem Guide zu dem Wasserfall von Gocta fragte, den er aus der Ferne gesehen hatte. Nicht einmal einen Pfad gab es. „Der Ort ist verhext. Die Riesenschlange verschlingt jeden, der dorthin geht“, sagten die Dorfbewohner. Doch der Reisende ließ sich nicht abschrecken: Er vermaß die Kaskade und entdeckte auf diese Weise den mit 711 Metern vierthöchsten Wasserfall der Welt.

Das folgende Medieninteresse sorgte auch bei den Anwohnern für einen Sinneswandel. Sie bauten einen Weg durch den Urwald und organisierten sich in einem Verein, der Touren anbietet. Ellen Santillán hat als einzige aus dem Dorf Englisch gelernt, nun wird sie am häufigsten als Guide gebucht: „Am Anfang waren wir noch 14 im Kurs, aber jetzt bin nur ich übrig“, bedauert sie.

Weil die Pferde ihr größter Schatz sind, lässt es sich keiner der Bauern nehmen, jeden Besucher persönlich zu geleiten. Durch die Felder klappern die Pferde auf Steinstufen aufwärts. Bäche sind zu überqueren, an denen Spinnennetze silbrig zwischen den Felsen schimmern. Bunte Papageien flattern krächzend durch die Wipfel. Immer dichter stehen die Bäume, immer verwunschener wuchern Moose und Flechten. Am Fuße des donnernden Wasserfalls benetzt eine Gischtwolke die Gesichter. Einige Mutige wagen sich in den kalten See. Die Riesenschlange hält heute wohl einen Verdauungsschlaf, auch die geheimnisvolle Seejungfrau, die in einigen Dorfmythen vorkommt, holt keinen der Badenden zu sich in die Tiefe.

Der Autor reiste mit Unterstützung des Fremdenverkehrsamtes PromPeru.