Paradiese hinter dicken Mauern - Marrakeschs Innenhöfe
Marrakesch (dpa/tmn) - Erst Trubel, dann die Ruhe: Marrakesch hat neben dem Gewimmel der Souks und auf dem Hauptplatz Djemaa El Fna Hunderte von Oasen zu bieten. Es sind die alten Lehmhäuser der Medina mit ihren kühlen Innenhöfen.
Diese Riads wären beinahe verfallen.
Die grob gepflasterten Gassen der Souks in Marrakesch sind gerammelt voll. Es riecht nach Gewürzen, Parfüm und gegerbtem Leder, dann nach Fisch. Männer in bodenlangen Gewändern, verhüllte Frauengesichter, Jugend in Jeans. In hoher Geschwindigkeit bahnen sich hupend Mopedfahrer im Zick-Zack ihren Weg, ein alter Mann auf einem morschen Eselskarren treibt sein müde dreinblickendes Tier an und ruft immer wieder „Attention!“.
Als europäischer Gast braucht man eine Weile, um sich im Trubel der Roten Stadt nicht mehr wie ein lebendiges Hindernis vorzukommen. Doch Marrakeschs Altstadt, die berühmte Medina, bietet auch ein Anti-Stress-Programm. Touristenführer Mustapha Benfaraji huscht um steinerne Ecken, durchschreitet Rundbögen und Tore. Die Gassen sind jetzt menschenleer, und die Fantasie lässt mit Krummdolchen bewaffnete Männer in bunter Seidenkluft hervorspringen. Schließlich klopft er an eine niedrige Holztür, die sich so plötzlich öffnet, als gebe es eine geheime Verabredung. Gebückt schreitet die Besuchergruppe durch den Rahmen. Schlagartig ändert sich die Atmosphäre.
Das „Dar Chérifa“, Künstlertreff und Literaturcafé in der Medina, empfängt einen wie einen Bekannten. Es wird ungefragt Minztee zu süßem Gebäck serviert, die Gespräche sind gedämpft. An Wänden und Säulen hängen bunte Bilder eines örtlichen Künstlers - für den Abend ist eine Vernissage geplant. Es ist das absolute Gegenprogramm zu den Souks oder dem quirligen Hauptplatz Djemaa El Fna, der abends aus allen Nähten platzt.
Dabei kommt dem „Dar Chérifa“ unter den Hunderten Riads in Marrakesch eine Schlüsselrolle zu: Es ist das älteste, noch bestehende Wohnhaus der Medina, irgendwann im 16. Jahrhundert errichtet. Und es ist eines der ersten Häuser, die restauriert wurden. „Anfang der Neunziger war die Bausubstanz in der Medina in einem Zustand wie die Altbauten in Ostberlin nach der Wende, und eine Kanalisation gab es so gut wie nicht“, sagt Abdellatif Ait Ben Abdallah. Der kleine Mann mit dem gebügelten Hemd gilt als Retter der Medina, bei der Restaurierung von rund 100 Riads hat er mitgewirkt.
„Nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 setzte eine Art Flucht aus der Medina ein - keiner wollte die Riads mehr, man zog in die Neustadt“, sagt Abdallah. Welche kulturhistorische Bedeutung die von außen so unscheinbaren Lehmhäuser haben, wurde ihm bewusst, als er Anfang der Neunziger mit dem Architekten Quentin Wilbaux durch die Gassen zog. Der Belgier schoss innerhalb von vier Jahren Fotos von 6000 Häusern für seine Masterarbeit und war einer der wenigen Gäste. „Es gab damals keinen Tourismus in der Medina“, erinnert sich Abdallah.
Das hat sich gründlich geändert. Als Abdallah vor über 20 Jahren ein Riad zum Gästehaus umbauen wollte, galt er als verrückt. „Heute gibt es 700 dieser Maison d'hôtes.“ Was einsetzte, war ein Run auf die alten Häuser und eine Explosion der Preise.