Vulkane und Bären - Abenteuerurlaub auf Kamtschatka
Jelisewo (dpa/tmn) - Am schnellsten bleibt die Zivilisation auf der Strecke auf dem Weg zum legendären Tolbatschik - einem Wahrzeichen auf der russischen Halbinsel Kamtschatka. Der Asphalt bricht außerhalb der Ortschaften rasch ab.
Auf einer unbefestigten Straße zwischen flachen Wäldern und sumpfigen Wiesen wirbeln Autos den Staub mit ihren Reifen zu weißem Nebel auf. Die Wege sind hart zum Kljutschewski-Naturpark und seiner einzigartigen Vulkanlandschaft. Zu ihr gehört der Tolbatschik mit seinen vielen Mini-Vulkanen.
Querfeldein rollt Naturführer Waleri mit seinem Geländewagen. Ausgetrocknete Flussbetten, reißende Ströme und tief zerklüftete und schlammige Waldstraßen muss er bewältigen, um Touristen sicher zu dem Naturpark auf einem Hochplateau zu bringen. Es ist eine Ebene, die an eine Mondlandschaft denken lässt - oder sogar an den Mars, wenn die stumpfen Kegel im Abendsonnenlicht rot glühen.
„Viele kommen auf Spritztour mit dem Hubschrauber“, sagt Waleri, als er an einem Propeller im schwarzen schlackigen Boden vorbeifährt. Das Wrackteil erinnert an einen Absturz vor ein paar Jahren hier im „Toten Wald“ - einem kargen und doch schönen Naturdenkmal. Kahl und von Wind und Regen weiß gegerbt stecken die Baumreste im aschgrauen Boden. Flechten, speziell angepasste Pflanzen und dürre Sträucher zeigen, wie langsam das Leben nach einem Vulkanausbruch zurückkehrt.
Waleri und seine Vierergruppe haben eine wüste Fahrt hinter sich. Der 48-Jährige weiß, was wohl niemand mehr vergessen wird: das Ruckeln über die Straße, den Kampf der Autoreifen im Bergfluss und dann der lange Weg durch einen Märchenwald. Endlos sind die Pilz-Teppiche, fast unausweichlich Begegnungen mit dem Kamtschatkabär, dem größten Braunbären weltweit neben dem Kodiakbären.
Die Halbinsel im äußersten Osten des Riesenreiches ist bekannt für Russlands größte Bärenpopulation. Hubschraubertouristen unternehmen Tagesausflüge an den Kurilensee im Süden von Kamtschatka. Dort locken Schwärme von Lachsen die zottigen Tiere an. Doch für die „fliegenden Touristen“, die auch zum Tolbatschik kommen, hat Waleri wenig übrig. Er kocht im Freien mit einem Bunsenbrenner Nudeln im Kochtopf. Lachssteaks, Kaviar und Salat aus Kamtschatkakrabben? Das gibt es eher an der Pazifikküste.
„Es ist doch was ganz Anderes, sich das hier richtig zu erarbeiten, diese Schönheit der Natur“, sagt der drahtige Russe zufrieden am Lagerfeuer. Im Schnitt drei Tage ist er mit seinen Gästen für eine Tour zum Tolbatschik unterwegs.
Die Raststätte - ein Unterstand aus Holz - liegt am Fuß eines Minivulkans, einer von vielen der 100 bis 200 Meter hohen Hügel, die an Abraumhalden erinnern. Der schiefergraue Sandboden ist ideal dafür, um hier die Zelte aufzuschlagen. Waleri hat Campingzeug samt warmen Schlafsäcken für Gäste mit leichtem Gepäck auf dem Dach seines Geländewagens dabei.
Zeltlager gibt es einige in der Gegend. Die Nächte unter dem sternenklaren Himmel sind auch im Sommer frostig. Selbst zur Hochsaison schaffen es nur wenige Menschen hierher. Manche reisen mit robusten Kamaz-Lastwagen an. Andere kommen auf Motorrädern, auf Fahrrädern oder nur in Wanderschuhen. Schweres Gepäck tragen alle, weil selbst Wasser in dieser Wüste nicht zu finden ist.
Bewohner der spartanischen Dörfer wie in Kosyrewsk im Flachland bieten vor den Touren zum Kljutschewski-Naturpark noch einmal ein richtiges Lager. Mit den einfachen und preiswerten Gästebetten in Holzhäusern verdienen sich die Bauern in dem kurzen Sommer von zweieinhalb Monaten ein Zubrot. Auch eine Banja - das russische Dampfbad - feuern die Gastgeber für Besucher an: Stärkung und Reinigung zugleich. Noch mehr urige russische Lebensart geht kaum - Schwärme bluthungriger Mücken inbegriffen.
Im Vulkanpark selbst gibt es wenig Leben, seit hier ein Großausbruch 1975 auf einer Fläche von mehr als 400 Quadratkilometern alles Pflanzliche vernichtete. Vulkanologen sind auf dem Kljutschewski-Areal ganz in ihrem Element.
„Hurra, ich grüße Dich, Tolbatschik!“, ruft die Rentnerin Rima. Es ist ein klarer Tag. Die 60-Jährige sieht mit ihrer Rückentrage wie eine Schildkröte aus, die ihren schweren Panzer trägt. Verzückt genießt sie die Sicht auf die mit Schnee bedeckten Vulkane: einen kleineren und noch aktiven Tolbatschik und einen größeren erloschenen Tolbatschik. Beide sind über 3000 Meter hoch.
Als Hauptvulkan überragt der Kljutschewskoi die Gruppe. Mit fast 5000 Metern Höhe ist er der größte aktive Vulkan in Asien. „Es ist für mich ein Lebenstraum, hier zu sein“, erzählt die rüstige Russin. Rima ist mit einer Wandergruppe aus der sibirischen Region Krasnojarsk unterwegs. Ein ganzes Jahr habe sie gespart und noch einen Kredit aufgenommen, um das hier zu sehen.
Rund 9000 Kilometer liegt Kamtschatka von Deutschland entfernt - bei zehn Stunden Zeitunterschied. Als hier die Kommunisten zu Sowjetzeiten das Sagen hatten, war die Halbinsel für Fremde praktisch Sperrgebiet - zugänglich nur mit Sondererlaubnis des KGB.
Von den größeren rund 300 Vulkanen sind etwa 10 Prozent aktiv. Eine einzigartige Dichte. Die Halbinsel schaffte es auch wegen ihrer Tier- und Pflanzenwelt auf die Liste des Weltnaturerbes der Unesco. Elf Lachsarten sind in den Flüssen Kamtschatkas heimisch - so viele wie sonst nirgends auf der Welt. Der hier vielerorts gewonnene rote Lachskaviar ist als Delikatesse in ganz Russland begehrt.
Was viele Naturfreunde anlockt, ist das Zusammenspiel von Vulkanen, Gletschern, Geysiren und spektakulären Küstenstreifen am Pazifik. Geologische Prozesse und Erdbeben formen die Landschaft immer wieder neu. Die reißenden Bergströme sind bei Wassersportlern beliebt, bei Anglern die breiten Flüsse.
Die Seniorin Rima und ihre Wanderfreunde besteigen gleich nach ihrer Ankunft an der Raststätte einen der Minivulkane. Lava spukt er zwar nicht. Aber an einigen Stellen raucht er. Qualm steigt aus dem rissigen Boden. In der schwefeligen Luft flimmert die Wärme.
An vielen Stellen auf den Rändern der Krater hinterlässt Schwefel gelbe Spuren. Von hier oben ist gut zu sehen, wie sich ein Feld oberflächlich erstarrter Lava viele Quadratkilometer breit über die Landschaft erstreckt. Der jüngste Ausbruch des Vulkans ist noch zu spüren - aus den Tiefen steigt die Wärme nach oben.
Vor allem Extremtouristen wagen das Abenteuer, unterirdische Höhlensysteme oder Kraterseen zu erkunden oder wie hier im Kljutschewski-Naturpark über das schartige und brüchige Lavafeld zu wandern. Die unberechenbare Natur birgt viele Gefahren. Jedes Jahr bezahlen einige Russen auf Kamtschatka ihre Abenteuerlust und Unerschrockenheit mit dem Leben. Hilfe ist oft weit. Auf Mobilnetze ist kein Verlass in der Einöde. Naturführer haben aber im besten Fall Satellitentelefone dabei.
Schon ein Picknick oder grillen am Lagerfeuer kann lebensgefährlich sein, wenn der Geruch von Essen hungrige Bären anlockt. Die Braunbären, die vor allem Fisch, Pilze und Beeren essen, besiedeln die gesamte Halbinsel. Manch Wohlhabende kommen im Sommer für einen einzigen Tag und nur für sie: die Bären, das Symbol Russlands. „Kamtschatka - hier fängt Russland an“, heißt es auf einem Postament mit Bärenskulpturen in Jelisowo in der Nähe des Flughafens der Halbinsel.
Erst seit gut 20 Jahren entwickelt sich der Tourismus. Die meisten Besucher kommen im Sommer ungeachtet der hohen Flugkosten. Sie genießen das Baden in Thermalquellen oder Seen mit Wasser in Badewannentemperatur. Im Winter, wenn die Flüge deutlich günstiger sind, werben Anbieter für Ski- und Schlittentouren.
In die Zivilisation zurück führt der Weg durch die Taiga und schließlich mit einer Fähre über die Kamtschatka, den größten Fluss der Halbinsel. Vom sandigen Ufer bietet sich noch einmal eine einmalige Sicht auf die auch im Sommer schneebedeckten Vulkanriesen des Kljutschewski-Naturparks.