Nostalgie-Besuch bei Bill Bo In der Augsburger Puppenkiste

Augsburg (dpa/tmn) - Wenn man im Jahr 1970 im Kindergarten mehrere Monate ausschließlich den Räuberhauptmann Bill Bo gemalt hat, dann ist es etwas Besonderes, ihn im 50. Lebensjahr endlich leibhaftig vor sich zu sehen.

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Da hängt er in einer Vitrine im Museum der Augsburger Puppenkiste. „Bomben, Granaten, Element, Potzblitz, Donnerwetter Sapperment nochmal“ - niemand konnte so schön fluchen wie Bill Bo, und das auch noch auf Hessisch.

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Im Grunde sieht er noch so aus wie damals, nur mit dem Unterschied, dass er Farbe hat, während ihn die Fans der ersten Stunde vielfach noch in Schwarzweiß erlebt haben. Buntfernsehen war Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre noch keine Selbstverständlichkeit. Welche Farben seine Landsknechtskleidung hatte, wusste man aber vom Foto auf der Langspielplatte zur Fernsehsendung und aus der damals noch unverzichtbaren Programmzeitschrift.

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Rührend, dass auch an ihm der Zahn der Zeit nicht spurlos vorübergegangen ist. Der Lack ist ab: Auf der klobigen Nase bröckelt unverkennbar die Farbe. Aber das ist es nicht, was ihn fremd wirken lässt. Es ist seine Unbeweglichkeit: Keine gestikulierenden Armbewegungen, kein Kopfwackeln. Der Mund ist starr geöffnet, so dass man die schief stehenden Räuberzähne sieht, der Blick etwas scheel.

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Haben sich früher nicht die unterschiedlichsten Gefühle darin gespiegelt? „Nur in Ihrer Fantasie“, erklärt Theaterleiter Klaus Marschall (55), Enkel des Puppenkisten-Gründers Walter Oehmichen (1901-1977). Kopf, Arme und Beine lassen sich bewegen, aber nicht das Gesicht. „Wir wedeln doch bloß mit einem Stück Holz herum und sagen dabei: "Der lacht jetzt, der weint jetzt, der ist jetzt nachdenklich"“, sagt Marschall. „Wir geben nur einen Steigbügel für die Fantasie, alles andere muss der Zuschauer selbst ausfüllen.“

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Gegenüber von Bill Bo hängt der Löwe, er konnte immerhin das Maul auf- und zuklappen und sogar die Augen zumachen. Frau Waas steht in ihrem Gemischwarenladen auf Lummerland, und das Piratenschiff der Wilden 13 dümpelt auf den Wellen. Nebenan die Blechbüchsenarmee: Soldaten, die ihren Gegner buchstäblich plattmachen, indem sie sich in ihren Panzer zurückziehen und von einem Hügel hinunterrollen.

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Das alles konnte man mit Konservendosen wunderbar nachspielen. Überhaupt dürfte das den Reiz der Puppenfilme wesentlich ausgemacht haben: Die Wolle, aus der die Haare von Erdmännchenkönig Kalle Wirsch gemacht sind, ließ sich genauso im Strickgeschäft an der Ecke erstehen. Auch das Meer aus durchsichtiger Plastikfolie oder die Lummerland-Insel mit zwei Bergen aus Pappe animierte zum Nachbasteln.

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Anfang der 70er Jahre nahm der Hessische Rundfunk als Produzent der Fernsehsendungen der Puppenkiste dann den Kulissenbau aus den Händen und verlegte ihn in seine eigenen Werkstätten. Von da an wurde die Ausstattung immer aufwändiger und detailreicher, dadurch ging den Produktionen spätestens in den 80er Jahren ein Teil ihres Zaubers verloren. Umso sentimentaler sind die Gefühle beim Anblick des Folienmeers, das in Augsburg um den einsamen Felsen des traurigen See-Elefanten aus „Urmel“ tost.

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Das Museum „die Kiste“ als Ort der Nostalgie: Eltern und Großeltern schieben ihre Kinder und Enkel hindurch und wirken mitunter begeisterter als der Nachwuchs.

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Vor Heimspielen des FC Augsburg sieht man samstagsvormittags Fußballfans aus Gelsenkirchen oder Köln andächtig vor den Vitrinen stehen. „Viele sagen mir: "Ich bin damit groß geworden, ich habe immer Urmel geguckt!"“, erzählt Marschall. In diesem Punkt aber trügt die Erinnerung. „Das bezieht sich auf das Fernsehverhalten heutiger Kinder, die 50 oder 100 Folgen anschauen.“ Die Puppenkiste konnte man keineswegs „immer gucken“, sie war eine Seltenheit: Es gab im ganzen Jahr nur vier Folgen, immer an den Adventssonntagen.

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Man fieberte den Ausstrahlungen geradezu entgegen. Schon das Pausenzeichen des Hessischen Rundfunks war eine Verheißung, gefolgt von der Ansagerin mit ihrem „Liebe Kinder, es ist wieder soweit...“ Dann der große Moment: Wie ein „Sesam öffne dich“ klappten die Kistendeckel mit der Aufschrift „Augsburger Puppenkiste“ auf.

Immer an der spannendsten Stelle hörte es auf - vor genau 50 Jahren, im Dezember 1966 zum Beispiel, als der böse Mister Knister gerade eine brennende Lunte zu Docs Flugzeug gelegt hatte - und dann musste man sich eine Woche gedulden, bis es weiterging. Mediatheken, DVDs, YouTube? Alles noch Science Fiction! Wenn man eine Folge verpasste, musste man unter Umständen Jahre bis zur nächsten Wiederholung warten. Das Weihnachtssingen am Adventssonntag konnte eine Tragödie sein, wenn es zeitlich in Konkurrenz zur Puppenkiste stand.

Nicht alle Stars sind im Museum vertreten, dafür ist es zu klein. Etwa 5000 Marionetten hängen - zum Schutz gegen Staub in Plastiktüten verpackt - im Magazin auf dem Dachboden, eingeteilt in Menschen und Tiere, Männer und Frauen, Volk und Prominente. Einträchtig wartet Angela Merkel mit zur Raute gefalteten Händen neben Horst Seehofer auf ihren nächsten Auftritt - vielleicht im Kabarettprogramm, das traditionell am Silvesterabend uraufgeführt wird.

Der Theaterbetrieb der Augsburger Puppenkiste ist so erfolgreich und lebendig wie eh und je - die Vorstellungen in einem alten Spitalbau aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges sind zu 96 Prozent ausgelastet. In diesem Dezember stehen dort „Der kleine Prinz“ und „Die Weihnachtsgeschichte“ auf dem Programm. Wer einen der 222 Sitze ergattert, kann eineinhalb Stunden lang erproben, ob die Magie der Kistendeckel bei ihm noch wirkt.

Informationen:

Augsburger Puppenkiste und „die Kiste - Das Augsburger Puppentheatermuseum“, Spitalgasse 15, 86150 Augsburg, Tel.: 0821/450 345-0, E-Mail: info@diekiste.net

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