Deutsche Vorentscheid ESC: Wer darf nach Stockholm?
Der deutsche ESC-Vorentscheid für Stockholm verspricht durchaus unterhaltsam zu werden. Bedient werden zehn Schubladen. Bunter geht es nicht.
Köln. Natürlich musste die Frage kommen. Jamie-Lee Kriewitz hat sie gemeistert. Ob die 17 Jahre alte Schülerin aus Hannover, die im Herbst die Casting-Gesangssendung „Voice of Germany“ dominierte, denn auch tatsächlich für Deutschland nach Stockholm führe, wenn sie denn heute den Vorentscheid gewänne? „Ja, klar, ich hab' voll Bock darauf.“ Keine Selbstverständlichkeit: Mit Andreas Kümmert hatte 2015 ein Ex-Casting-Sieger den ESC-Vorentscheid in den Studios von Brainpool TV in Köln gewonnen, war am Ende aber eher Nervenbündel denn froh - und beendete sein ESC-Trauma noch am selben Abend. Vertreterin Ann-Sophie war dann international bemüht, aber nahm einen Tiefschlag nach dem anderen: Null Punkte in Wien, letzter Platz, das schafften bislang außer der Hamburgerin nur Ulla Wiesner (1964) und Nora Nova (1965).
Gut also, dass Krievitz sich mindestens am Mittwoch, als alle Kandidaten in Köln präsentiert wurden, schon mal moralisch verpflichtet hat. Die Gute hat ziemlich gute Chancen, tatsächlich nach Stockholm zu fahren: Ihr Lied „Ghost“ ist ein exzellenter, kraftvoller und gar nicht billiger Popsong, über die Casting-Show ist sie zudem einem großen Publikum bereits bekannt. Und: Jamie-Lee, Manga-Fan und Björk-Kopie, ist bunt, aber bescheiden.
Ein gutes Gesamtpaket. Zehn Kandidaten messen sich, Barbara Schöneberger moderiert, Peter Urban kommentiert. ESC ist eben auch Tradition, eine große Familie. Von der geplant, aber gescheiterten Ein-Mann-Show mit Xavier Naidoo ist nichts geblieben. Der Mannheimer Barde sollte ursprünglich die deutsche Abordnung sein, die Zuschauer allein nur noch sein Lied auswählen. Als der Plan bekannt wurde, war er auch schon zerplatzt: Politisch mindestens anrüchige Äußerungen hatten Naidoo im meinungsfreudigen World Wide Web zerfleischt, der NDR kappte seinen Plan — und kommt jetzt mit dem Kontrastprogramm: Zehn Songs, zehn verschiedene Schubladen, viel Talent und wenig Star.
Im Zweifel ist das reizvoller, der Zuschauer entscheidet via Telefon oder ESC-App, alle singen, drei Acts kommen ins Finale, singen dann noch einmal — bis einer übrig bleibt. Schon gestern wurde klar, dass das unterhaltsam werden kann. Auch, weil Ralph Siegel mal wieder dabei ist. Der ewige Produzent und Komponist ringt um seinen Lebenstraum, nach dem Sieg mit Nicole 1983 nochmal am großen Rad zu drehen. Helfen soll die Düsseldorferin Laura Pinski, ihr Song „Under the sun we are one“ ist ein typischer 90er Jahre ESC-Song, leicht hymnisch, aber auch ein bisschen abgedroschen. Vom Text ganz zu schweigen, auch wenn die Erkenntnis nur falsch ist, weil sich niemand mehr daran hält. Wir sollen es wohl als Aufforderung begreifen. Könnte helfen.
Gute Chancen dürfte auch der bayrischer Liedermacher Alex Diehl haben, 28, sympathisch, Typ Knuddelbär, Konzept: Diehl und Akustik-Gitarre. Der stellte sein „Nur ein Lied“ unmittelbar nach den Pariser Terroranschlägen ins Netz - und wurde sieben Millionen Mal geklickt. „Da komponiere ich seit zehn Jahren auf einen erfolgreichen Popsong hin, und dann schaffst Du so etwas über Nacht“, wunderte sich Diehl noch gestern. Jetzt ist er in Köln, heute auf der großen Bühne, vielleicht bald in: Stockholm. Hörenswert sind auch die Hamburger Schwester Cosima und Josepha (Joco), Indie-Pop mit Niveau, sanfte Zweistimmigkeit, einfach gut: „Full Moon“. Spartenmusik kommt mit den gregorianischen Gesängen vom Chor Gregorian und dem Bombastrock der Hessen von Avantasia.
Kommerziell sind beide erfolgreich, aber nicht ESC-massentauglich. Schlager-Pop-Sängerin Ella Endlich musste sich auch gestern durch die Blume sagen lassen, doch eher die schlechtere Helene Fischer zu sein. Charme hat sie trotzdem. Luxuslärm erinnert an Silbermond (Hallo Schublade!) und will mit deutschem Text den ESC erobern. Das gelang lange nicht mehr. Zuletzt: Zu wenig auf den Punkt dürften der Tanzsong von Woods of Birnam („Lift me up“) und „Protected“ von Keoma daher kommen. Und auf den Punkt - das muss es sein. Jetzt oder nie. Es sei denn, man heißt Ralph Siegel.