Beginn der Europawahl Briten und Niederländer stimmen ab - Sorgen, Populisten und das Brexit-Drama

Brüssel/London/Amsterdam · Gut 418 Millionen Wähler in 28 Staaten: Die „größte grenzüberschreitende Wahl auf dem Planeten“, wie die EU-Kommission sagt, läuft. An der Europawahl nimmt auch ein Land teil, das mehrheitlich auf keinen Fall mitwählen wollte.

Foto: dpa/Phil Nijhuis

Die Europawahl hat begonnen - begleitet von Sorgen über ein Erstarken rechter Populisten und einer Zuspitzung der Brexit-Krise. Als Erste stimmten am Donnerstag die Niederländer und die Briten ab, obwohl Letztere die Europäische Union Ende Oktober verlassen wollen. Bis zum Sonntag können bei der Superwahl rund 418 Millionen Menschen in den 28 EU-Mitgliedsstaaten 751 neue EU-Abgeordnete bestimmen.

Deutschland wählt wie die meisten anderen EU-Staaten zum Abschluss am Sonntag. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) rief dazu auf, ein Zeichen gegen Nationalismus und Populismus zu setzen. Europa dürfe nicht „den Chaoten, Spaltern und Angstmachern“ überlassen werden.

Der Sprecher der EU-Kommission, Margaritis Schinas, sagte, die Europawahl sei „die größte grenzüberschreitende Wahl auf dem Planeten und eine Chance, über unsere Zukunft zu entscheiden“. Nun sei die Stunde des Volkes, ergänzte er am Donnerstag.

Der Wahlausgang entscheidet nicht nur über die Sitzverteilung im EU-Parlament und die Chancen des Deutschen Manfred Weber auf den Posten des EU-Kommissionschefs. Der bisherige Amtsinhaber Jean-Claude Juncker, der wie Weber aus der christdemokratisch-konservativen Parteienfamilie der EVP (Europäische Volkspartei) kommt, scheidet aus. Es geht auch darum, wie die große Koalition in Berlin weiter zusammenarbeitet.

Gerechnet wird diesmal mit hohen Stimmanteilen für EU-kritische und rechtspopulistische Parteien. Das könnte die Gesetzgebung und die Besetzung von Spitzenposten in Brüssel extrem kompliziert machen. Die großen Parteienfamilien der Christdemokraten und Sozialdemokraten müssen im Vergleich zur Wahl 2014 deutliche Verluste befürchten. Voraussichtlich werden sie im EU-Parlament zusammen keine Mehrheit mehr haben, sondern auf Liberale, Grüne oder Linke angewiesen sein.

Nach einer Projektion des Portals „Politico“ kann die EVP im Parlament auf 171 Mandate hoffen, die Sozialdemokraten auf 144. Die Liberalen kämen zusammen mit der Partei LREM des französischen Präsidenten Emmanuel Macron auf 107 Mandate. Die neue Allianz von Rechtsnationalen und Populisten würde mit 74 Sitzen Platz vier erreichen; die ebenfalls EU-kritische Fraktion EKR hätte weitere 57 Sitze. Danach folgen die Grünen mit 56 und die Linke mit 51 Mandaten.

In Großbritannien zeichnete sich ein Triumph für die Brexit-Partei von Nigel Farage ab, die nach Umfragen bis zu 38 Prozent der Stimmen erhalten könnte. Auch die Liberaldemokraten und die Grünen, die sich gegen den EU-Austritt aussprechen, erleben Höhenflüge. Die Wähler scheinen die Gelegenheit nutzen zu wollen, um die beiden großen Parteien, Konservative und Labour, für das Chaos um den EU-Austritt abzustrafen. Für die konservativen Tories von Premierministerin Theresa May dürfte es bitter werden, sogar ein einstelliges Ergebnis scheint nicht ausgeschlossen.

May steht unter massivem Druck, von ihrem Amt zurückzutreten. Spekulationen zufolge könnte sie bereits am Freitag gezwungen sein, ein Datum für ihren Abschied zu nennen.

Die Briten hatten vor fast drei Jahren in einem Referendum für den EU-Austritt gestimmt. Dass sie dennoch an der Wahl teilnehmen, liegt daran, dass die britische Regierung ihr mit der EU ausgehandeltes Austrittsabkommen nicht rechtzeitig durch ihr Parlament gebracht hat. Der EU-Austritt soll nun spätestens am 31. Oktober erfolgen, doch werden auch an diesem Termin Zweifel laut.

In den Niederlanden waren knapp 13 Millionen Menschen zur Abstimmung aufgerufen. Mit Spannung wurde dort das Abschneiden des neuen Stars der rechten Szene, Thierry Baudet, und seines Forums für Demokratie (FvD) erwartet. Die Partei will ein Referendum über die niederländische EU-Mitgliedschaft und hatte überraschend die jüngste Provinzwahl gewonnen. Bei der Europawahl 2014 existierte die Partei noch nicht.

Letzte Umfragen sahen die Rechtspartei FvD und die konservativ-liberale VVD von Ministerpräsident Mark Rutte gleichauf an der Spitze mit jeweils 15 Prozent. Die sozialdemokratische PvdA rangierte mit 13 Prozent an dritter Stelle. Im europaweiten Fokus steht Frans Timmermans, der Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten von der PvdA. Die Wahlbeteiligung lag in den Niederlanden bei der Europawahl 2014 bei mäßigen 37 Prozent.

Insgesamt erstreckt sich die Europawahl über vier Tage: Irland und Tschechien folgen am Freitag, einige weitere Länder wählen am Samstag, der große Rest zum Abschluss am Sonntag.

Die geplante neue Fraktion der Rechtsnationalen und Populisten im EU-Parlament sieht in ihren Reihen noch Platz für die Brexit-Partei von Nigel Farage. AfD-Chef Jörg Meuthen sagte der Deutschen Presse-Agentur, welcher Fraktion sich diese neugegründete britische Partei anschließen werde, wisse er noch nicht. Er sehe aber eine Basis für eine gute Zusammenarbeit.

Meuthen ist Spitzenkandidat der eurokritischen AfD für die Europawahl. Er hatte am vergangenen Wochenende in Mailand gemeinsam mit dem Chef der italienischen Lega, Matteo Salvini, und weiteren rechtsnationalen Kräften die Bildung einer Fraktion mit dem Namen „Bündnis Europäische Allianz der Völker und Nationen“ angekündigt. Dieser sollen unter anderem auch die französische Partei Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und die österreichische FPÖ angehören.

Am Freitag sind hierzulande große Wahlkampf-Abschlusskundgebungen geplant. In München wollen nachmittags unter anderem EVP-Spitzenkandidat Weber, Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz reden. In Berlin treten im Wahlkampfendspurt der Grünen die Spitzenkandidaten Ska Keller und Sven Giegold auf, zudem die Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck. Die SPD trommelt in Bremen für sich, erwartet werden Katarina Barley, Bürgermeister Carsten Sieling, Parteichefin Andrea Nahles sowie Vize-Kanzler Olaf Scholz.

(dpa)