Begeisterung: London feiert unbeschwerte Spiele
London (dpa) - Premier David Cameron klatschte im Velodrom Prinz William ab, und selbst der „Big Ben“ schlug aus dem Takt: Ohne den ideologischen Ballast der Peking-Spiele feiert London bisher ein unbeschwertes Olympia-Fest.
Die berauschten Gastgeber eilen dem Aufstieg in die Top 3 des olympischen Weltsports entgegen und liefern mit ihren historischen Prachtbauten gleichzeitig einen glanzvollen Rahmen für die globale Leistungsschau. „Es sind außergewöhnliche Spiele. Sie sind mitreißend und inspirierend“, sagte IOC-Vize Thomas Bach in einer positiven Zwischenbilanz. Die erste Halbzeit des Ringe-Spektakels weckt Erwartungen auf einen furiosen Endspurt bis zum Finale am 12. August.
Nach den atmosphärischen Störungen im Vorfeld der Spiele ist selbst der notorisch verstopfte Londoner Verkehr nur noch eine Randnotiz. Die anfällige U-Bahn hielt bisher, nur zu Beginn der Leichtathletik-Wettkämpfe stotterte die 150 Jahre alte Nahverkehrs-Oma leicht. Die Sicherheitsparanoia der Olympia-Macher hat sich gelegt, auch die befürchtete Doping-Lawine ist ausgeblieben - jedenfalls ist sie nicht sichtbar geworden: Vier Athleten wurden bisher erwischt - trotz neun Weltrekorden allein im Schwimmen und das in der Ära nach den Hightech-Anzügen.
Die 400 Meter-Lagen-Bestmarke der Chinesin Ye Shiwen wurde prompt mit Argwohn betrachtet - die 16-Jährige verbesserte ihre persönliche Bestzeit gleich um sieben Sekunden und war dabei auf den letzten 50 Metern sogar schneller als US-Superstar Michael Phelps, der erfolgreichste Athlet der Olympia-Geschichte.
Phelps, Siebenkampf-Queen Jessica Ennis, Segel-Ikone Ben Ainsley und Zeitfahr-Olympiasieger Bradley Wiggins (alle Großbritannien) sind nur vier Gesichter der Spiele. Der „Superman aus Baltimore“ (Los Angeles Times) ist mit 22 Medaillen, davon 18 aus Gold, der erfolgreichste Athlet der Olympia-Geschichte. Wiggins bringt mit seinen Koteletten, Klamotten und seinem Musikgeschmack eine britische Subkultur zurück ins Gedächtnis: die der „Modernists“, die ihre erste Welle bis Mitte der 60er Jahre erlebt hatten. Nach 82 Sekunden war der Start der 16 Jahre jungen Judoka Wodjan Ali Seraj Abdulrahim Shaherkani zu Ende. Der erste olympische Auftritt überhaupt einer Athletin aus Saudi-Arabien taugt als Symbol der London-Spiele.
„Hervorragende Athleten, beste Stimmung, tolles Publikum - was will man mehr?“, sagte Bach, „die ursprüngliche Sportbegeisterung der Briten steckt einen an. Egal, wo man hinkommt, rockt das Haus und zwar nicht nur für das Team GB.“ Weniger euphorisch fiel das sportliche Zwischenzeugnis für das deutsche Team aus. Chef de Mission Michael Vesper nannte die Halbzeit-Bilanz mit 21 Medaillen (fünf Gold, zehn Silber, sechs Bronze) nach 143 der 302 Entscheidungen „überwiegend positiv“. Das Doppel-Gold von Vielseitigkeitsreiter Michael Jung, der überragende Olympiasieg des Ruder-Achters und die Silbermedaillen von Degenspezialistin Britta Heidemann, Radprofi Tony Martin im Zeitfahren und Turner Marcel Nguyen im Mehrkampf versöhnten für zahlreiche Enttäuschungen.
Desolate Schwimmer, frustrierte Fechter und Schützen waren die größten Schwachstellen und schreien nach „gründlicher Analyse“ (Vesper). Bach freute sich lieber über „unsere tollen Siegertypen“, die sich „sympathisch, und mit positiver Ausstrahlung“ darstellen. Die heikle Affäre um die Ruderin Nadja Drygalla beschäftigte unterdessen sogar Innenminister Hans-Peter Friedrich. Die Rostockerin ist mit einem mutmaßlichen Rechtsextremisten liiert und hatte das olympische Dorf freiwillig verlassen. Vielversprechende sportliche Aussichten bieten in den letzten sieben Wettkampftagen vor allem die verlässlichen Kanuten, Reiter, Hockey-Herren, Bahnrad-Fahrer, Robert Harting mit dem Diskus und die Moderne Fünfkämpferin Lena Schöneborn.
Die eindrucksvolle Medaillen-Produktion der anderen können die deutschen Olympioniken nur bestaunen. Der Vormarsch der Asiaten setzt sich eindrucksvoll fort. Selbst Südkorea, bisher mit zehnmal Gold dekoriert, zieht davon. An der Spitze der Nationenwertung liefern sich die Chinesen im Kampf der Systeme ein prickelndes Duell mit den USA. Die britischen Heldentaten verzaubern Royals, Presse und Fans gleichermaßen. Allein am Samstag holte Team GB sechs Goldmedaillen, davon drei in nur 47 Minuten in der Leichtathletik - so erfolgreich an nur einem Tag waren die Gastgeber seit 104 Jahren nicht mehr. 80 000 Zuschauer im Olympiastadion grölten den Beatles-Hit „All you need is love“ - Paul McCartney sang mit. „Das war der größte Tag im Sport, bei dem ich jemals dabei sein durfte“, sagte LOCOG-Chef Sebastian Coe.
Bach spricht von der Macht der Realitäten, die diese ersten neun London-Tage mit ihren mehr als 50 Weltrekorden entwickelt hätten. Wegen des reibungslosen Ablaufes haben die Koordinierungskommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) und das Londoner Organisationskomitee LOCOG ihre täglichen Sitzungen voraussichtlich bis zum 10. August eingestellt. Die akribischen Vorbereitungen von Coe und Co. haben sich gelohnt. Nach der schrillen und humorvollen Eröffnungsfeier greift inzwischen die bemerkenswerte Präzision der britischen Olympia-Planer.
Coe wollte Spiele für Athleten abliefern und die Sportkultur und Beteiligung im eigenen Land verbessern. Die Athleten sind zufrieden, nur die britische Unsportlichkeit ist verbesserungswürdig. Der „Guardian“ enthüllte: Mehr als 60 Prozent aller Briten könnten keine 100 Meter ohne Pause laufen.