Rios Party für die Welt und ein Pfeifkonzert
Rio de Janeiro (dpa) - Um 23.26 Uhr hat Michel Temer seinen großen Auftritt. Er soll laut Programm nur 40 Sekunden dauern. Brasiliens Interimspräsident muss sagen: „Ich erkläre die Spiele von Rio de Janeiro zur Feier der XXXI.
Olympiade für eröffnet“.
Aber für immer wird mit ihm nun verbunden sein, dass Temer es wohl gesagt hat, aber seine Worte in einem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert im Maracanã-Stadion untergegangen sind. An den TV-Bildschirmen mit mehreren Milliarden Zuschauern ist das Ausmaß der Blamage gar nicht richtig wahrzunehmen, weil offensichtlich massiv die Pfiffe heruntergeregelt worden sind. Schon zu Beginn der Eröffnungsfeier war er - anders als im Programm angekündigt - nicht begrüßt worden. Sondern nur IOC-Präsident Thomas Bach.
Und als Bach seine Ansprache hält, begrüßt auch er Temer nicht. Beides ein Affront. Das Debakel nimmt seinen Lauf. Nach einer bis dahin stimmungsvollen, sehr brasilianischen Party ein scharfer Kontrast. Denn es gärt im Land, die Amtsenthebung der bisher nur suspendierten Präsidentin Dilma Rousseff soll nach Temers Willen nach Olympia zügig vollzogen werden, damit er Anfang September als „richtiger“ Präsident amtieren kann. Warum dieser Hass?
Rousseffs Vizepräsident von der Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) hatte sich mit Oppositionsparteien verbündet, um die notwendigen Mehrheiten für ihre Amtsenthebung zu organisieren - sie war im Mai suspendiert worden. Nur 14 Prozent sind mit seiner Amtsführung zufrieden, bei Neuwahlen hätte er keine Chance. Viele nennen ihn „Putschist“, wenngleich auch Rousseff zuletzt sehr unbeliebt war, aber immerhin rechtmäßig gewählt. Sie bezeichnet ihn als „Verräter und Usurpator“.
Statt der erhofften 100 sind nur 37 Staats- und Regierungschefs im Stadion, aus Südamerika nur Argentiniens Präsident Mauricio Macri und Paraguays Regierungschef Horacio Cartes. Auch das peinlich, nicht ausgeschlossen, dass es während der Spiele zu Protesten kommt, die Temer gelten, aber die Spiele treffen.
Danach tritt fast in den Hintergrund, dass der Marathonläufer Vanderlei de Lima kurz vor Mitternacht das Olympische Feuer entzündet, eine bewusst kleine Flamme, um symbolisch gegen eine globale Energieverschwendung zu protestieren. Fußball-Legende Pelé hatte mit Verweis auf Gesundheitsprobleme abgesagt. Irgendwie steht Rio 2016 bisher unter keinem guten Stern.
Nach all den Widrigkeiten im Vorfeld, dem Draufhauen auf Rio, ist der Chef des Organisationskomitee, Carlos Nuzman, sichtlich bewegt. „Der beste Platz ist jetzt hier“, sagt er, riesiger Jubel. „Wir empfangen die Welt mit offenen Armen. Wir haben nie aufgegeben.“ Seine anrührende, voller Inbrunst vorgetragene Rede wird immer wieder von Beifall unterbrochen und bejubelt.
Der Chef des Nationalen Olympischen Komitees trifft offensichtlich den Ton, macht Mut, macht sie stolz, sagt Worte, die seine verunsicherten Landsleute hören wollten, anders als Temer. Da verzeiht man dem erregten Nuzman auch den kleinen an den IOC-Präsidenten gerichteten Versprecher. Bach habe immer an den Sex von Rio geglaubt, sagte er - und wollte eigentlich im englischen „Sucess“ (Erfolg) sagen.
Mit der Feier gelingt, mit wenig Budget, viel zu machen - Berichten zufolge stand nur die Hälfte der 42 Millionen Dollar zur Verfügung, die die Eröffnung in London gekostet hatte.
Unter der künstlerischen Leitung des Regisseurs des Favela-Dramas „City of God“, Fernando Meirelles, wird all die Vielfalt Brasiliens in Szene gesetzt. Die Eröffnung 2012 in London mit britischem Humor, einfliegendem James Bond und Sonderrolle für die Queen lässt sich nicht übertreffen. Aber mit Leichtigkeit wird gezeigt, was Brasilien, dieses faszierende Land wirklich ausmacht.
Von Anfang an wippen die Gäste im Takt, manche tanzen, fast alle summen die Gassenhauer der populären brasilianischen Musik: Samba, Bossa, deren Einflüsse in der modernen Popmusik weiterleben. Ein verzücktes, wenn auch nicht voll besetztes Stadion, das gefangen ist von diesen Melodien und Rhythmen, die die Welt erobert haben.
Ein großes Land mit großen Problemen, aber großen Traditionen und Errungenschaften, auf das es auch in der Krise bauen kann. Die Bühne, auf der die Olympia-Fahne gehisst wird, eine Hommage an die Kurvenarchitektur des Erbauers von Brasilia, Oscar Niemeyer. Die künstlerische Kraft - und natürlich die Schönheit.
Das bekannteste Model Gisele Bündchen darf nicht fehlen und schlägt die Brücke der Generationen zur Musik, die alle verbindet. Die 36-Jährige stolziert ganz allein durch das Maracanã, zu den Klängen des Bossa-Nova-Kassikers „The Girl from Ipanema“, in einem Glitzerkleid, an dem die Designerin Alexandre Herchcovtich vier Monate lang gearbeitet hat.
Das Mädchen von Ipanema ist der Rio-Song schlechthin. Komponiert von Tom Jobim (als Dank trägt Rios Flughafen seinen Namen - wo gibt es das schon auf der Welt?) und einem Freund, als Hommage an die Strandschönheit Helô, die oft an ihrer Stammkneipe vorbeilief. Helô ist heute über 70, sie trug in Rio auch kurz das Feuer. Am Ende sieht es so aus, also nehme Bündchen bei ihrem Gang durchs Stadion genau den Laufweg wie André Schürrle 2014 im WM-Finale gegen Argentinien, als er in der 113. Minute auf Mario Götze flankte.
Brasilien, dessen Name sich vom Brasilholz ableitet, setzt ganz auf Grün, die Natur, Vielfalt, nirgendwo so sichtbar wie im Amazonasgebiet. Wie Adern durchzieht ein grünes Lichtermeer zu Beginn die Arena, es wird an das unberührte Land erinnert, Schiffe tauchen auf, erinnern an die Ankunft der Portugiesen, die Sklaven aus Westafrika holten. Mit Videotechnik wird das Entstehen der Megastädte dargestellt. Die Favelas bekommen eine musikalische und tänzerische Hommage. Und natürlich haben die Sambaschulen Rios einen stimmungsgewaltigen Auftritt.
Aber es gibt auch den Teil „Nach der Party“, plötzlich wird es ruhig, Stimmen sind zu hören, „Grönland verschwindet“. Es geht um die Folgen der rasanten Erderwärmung. Brasilien inszeniert sich als Kämpfer gegen den Klimawandel, Verteidiger der Vielfalt.
Aber auch hier steht Brasilien für Widersprüche. Dieses Jahr sind schon 33 Indigenas ermordet worden im Kampf gegen weitere Regenwaldabholzung und Vertreibung. Und wer in Rios Gewässern unterwegs ist, empfindet das Thema Umweltschutz sehr fern. Das fängt schon mit der Tütenschwemme in jedem Supermarkt an.
Doch die Hoffnung ist, dass diese Spiele vielleicht Veränderungen anstoßen - so fließen in die Guanabara-Bucht, wo bei Olympia gesegelt wird, weniger ungeklärte Abwässer hinein. Bei der Show spielt die Rettung des Planeten die zentrale Rolle. Vor jedem einmarschierenden Land fährt ein buntes, mit Blumen verziertes Fahrrad, das das Land ankündigt, ein kleines Kind trägt eine grüne Pflanze. Jeder Sportler bekommt einen Samen, damit sollen 11 000 Bäume in einem Park im Stadtteil Deodoro in der Nähe des Reitstadions gepflanzt werden.
Riesigen Jubel gibt es am Ende des 1:50 Stunden langen Einlaufs, als erst das kleine Flüchtlingsteam unter der Olympischen Flagge das Stadion betritt - auch so ein olympisches Zeichen in dieser zunehmend verrückten Welt - und dann die 465 Sportler Brasiliens. Sie laufen zu den Klängen des Sambaklassikers von 1939, Aquarela do Brasil, ein: Als die Musik vom Band verstummt, singen die Menschen minutenlang weiter: Ein Gänsehaut-Moment.
Jetzt hat man zum ersten Mal das Gefühl, vielleicht kommt doch noch Olympia-Stimmung auf. Sicher ist das nicht, denn wie schon der Olympiamacher und Bürgermeister Eduardo Paes vor Wochen sagte: „Mit dieser ganzen ökonomischen und politischen Krise, mit all diesen Skandalen, ist es nicht der beste Moment, um im Fokus der Welt zu stehen.“ Vielleicht belehren ihn die Olympioniken eines Besseren.