„Rockys“ wildes Leben: Vom Millionär zu Hartz IV
Hamburg (dpa) - Graciano Rocchigiani ist Kult, aber auch Schrecken. „Grazze“ war ein begnadeter Boxer, eckte aber immer wieder mit Gesetz und Zeitgenossen an. Er schwamm im Geld, lebte später von Hartz IV.
In den 20 Jahren seiner Profikarriere gab es immer wieder schlimme Abstürze. „Rocky“, wie er mit zweitem Kosenamen heißt, fuhr besoffen Auto, büßte seinen Führerschein ein, kokste, verprügelte Taxifahrer, verstieß gegen Bewährungsauflagen, wanderte schließlich ins Gefängnis.
„Ich habe alles in allem ein schönes, erfolgreiches Leben“, fasst er seine Vita zwei Tage vor seinem 50. Geburtstag am Sonntag zusammen. „Ich bin im Prinzip ein Sonntagskind, habe 50 Jahre auf der Überholspur gelebt. Die 22 Monate im Knast habe ich vielleicht auch verdient“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa.
Mit 24 Jahren hatte er sein wildes Leben auf eine einfache Formel gebracht: „Saufen, fernsehen, ficken.“ Das, so meint er, würde er heute anders umschreiben. „Ich war jung, hab' alles nicht so eng gesehen. Da ist man nicht so weise wie mit 50.“ Trotz Gefängnis sei er nie ein Verbrecher gewesen, beteuert er und berlinert: „Ick hab' nix Schlimmet jemacht. Det passiert nun mal Otto Normalverbraucher.“
„Rocky“ war Weltmeister im Supermittel- (1988/89) und Halbschwergewicht (1998 bis 2000). „Er war der talentierteste Boxer in den letzten 30 bis 40 Jahren in Deutschland, vom Talent höher einzuschätzen als Henry Maske“, würdigt Box-Promoter Wilfried Sauerland den Jubilar. 49 Profikämpfe bestritt der Rechtsausleger mit dem linken Hammer, 41 gewann er. Er ging zu Sauerland und suchte irgendwann das Weite. Er ging zu Universum und haute bald wieder ab. Schließlich trainierte er sich selbst mit dem ehemaligen Fußball-Profi Axel Kruse als Hilfscoach. Mitunter hakte die Kommunikation. „Rocky“ zu Kruse, als dieser ihm während eines Kampfes Ratschläge gab: „Axel, halt's Maul!“
„Rocky“ war mal Millionär. Längst vorbei. Etwa 4,5 Millionen Dollar als Schadenersatz hatte er vom Verband WBC vor neun Jahren gerichtlich erstritten. Das Geld ist verprasst. „Sonst hätt' ick ja nicht Hartz IV beantragt“, erklärt er. Der Ex-Champ hat in einer kleinen Pension in Großziethen bei Berlin ein Zimmer, muss Schulden abzahlen. „Boxweltmeisterin Ramona Kühne hat mal bei uns gewohnt und mir von Gracianos Lage erzählt. Da habe ich ihn aufgenommen. Jetzt verbindet uns eine Freundschaft“, sagt Pensionsbesitzer Willi Belger.
Legendär ist die Berliner Schnauze des gebürtigen Duisburgers. Der Sohn eines sardischen Eisenbiegers und einer Berlinerin, der sowohl die Schule als auch seine Lehre als Glas- und Gebäudereiniger geschmissen hatte, polterte los ohne Rücksicht auf Verluste. „Es gibt kluge und dumme Polen. Und du bist ein dummer Pole“, hatte er einst seinen Gegner Dariusz Michalczewski beschimpft. Verlor er umstritten, befand er: „Allet Beschiss, allet Schweine.“
So ganz exklusiv hat er den Verdacht nicht. „Er ist ja in seinem Leben immer beschissen worden“, berichtete Ex-Weltmeister Sven Ottke in der Münchner „Abendzeitung“ und lobte „Grazze“: „Das ist ein grundehrlicher, grundguter Kerl. Er hat keinen Funken Hinterlist oder Falschheit, er sagt immer knallhart die Wahrheit.“
Einer der größten Aufreger war die Niederlage im ersten Kampf gegen „Gentleman“ Maske. „Den hat er nicht verloren“, schwört Jean-Marcel Nartz, der den 19-jährigen Rocchigiani zum Sauerland-Stall holte, noch heute und sagt: „Er ist mein Baby“. Der Kampf gegen Maske musste für Klassenkampf herhalten: Gut gegen Böse, Ost gegen West, Noblesse gegen Gosse, Pfau gegen Straßenköter. „Ick hab ihn im Prinzip umjehauen. Der hat sich nur noch festjehalten an mene Bene“, verrät Rocchigiani. Es gibt aber auch Lob für Maske: „Er ist ein sehr netter Mensch. Er hat mir Hilfe angeboten, als ich in Knast kam.“
Seit November ist „Rocky“ Sportkoordinator in der Weltliga der Amateurboxer WSB. Die Hartz-IV-Phase ist vorbei. „Ich habe ihn aufgefangen. Hier kann er den Jungs was beibringen. Er ist ein sportliches Vorbild und kann was verdienen“, sagt der deutsche WSB-Chef Ulrich Bittner. „Rocky“ sucht nun eine eigene Wohnung, am liebsten in Berlin-Charlottenburg. „Schade, Alkohol und falsche Freunde haben ihn die Karriere gekostet“, bedauert Sauerland rückblickend. „Grazze“ sieht das anders: „Ich bereu' nüscht. Ick hab' auf jeden Fall was zu erzählen. Langweilig war det nie.“