Fangesang: Der Lederhosen-Auszieher
Der ehemalige Stadionsprecher des 1. FC Kaiserslautern hat den berühmtesten deutschen Fangesang erfunden — und den ganzen Berufszweig revolutioniert.
Kaiserslautern. Der nette Herr mit den grauen Haaren und den fröhlichen Augen hat so gar nichts von einem „Anheizer“, doch das war noch einer der höflicheren Ausdrücke, die sich Udo Scholz früher gefallen lassen musste. Manche Leute nannten ihn einen „Scharfmacher“ oder „Einpeitscher“; Winnie Schäfer benutzte sogar Vokabeln, die wir hier nicht wiedergeben können. Und das alles nur, weil Scholz in seinem Nebenjob als Stadionsprecher des 1. FC Kaiserslautern ein paar Dinge machte, die heute völlig normal sind, die aber damals —- in den Siebzigern und Achtzigern — keiner seine Kollegen tat.
So las Scholz die Aufstellung nicht im stillen Kämmerlein vor, sondern stand dabei auf dem Rasen vor der Westkurve. Und er las nur den Vornamen eines Spielers, damit die Tribüne den Nachnamen brüllen konnte. „Das war eigentlich eine Idee von Rainer Franzke vom ‚Kicker’“, sagt Scholz heute. „Der hat das im Ausland gesehen. In Deutschland wollte keiner das Risiko eingehen, weil wir ja damals noch keine Videowürfel hatten, auf denen man die Namen einblenden konnte. Die anderen Stadionsprecher hatten einfach Angst, dass ihr Publikum nicht mitmacht. Aber ich kannte ja meine Westkurve.“
Außerdem hatte Scholz schon immer ein Faible für große Auftritte und Showeffekte. In den späten Sechzigern arbeitete er als Tourmanager für den Kinderstar Heintje, davor veranstaltete der gebürtige Sauerländer Konzerte, bei denen es sehr wild zugehen konnte, wie Scholz in seinen kürzlich erschienenen Memoiren erzählt. In Ludwigshafen zerlegten erst The Who ihre Instrumente, dann die Zuschauer die Halle. In Düsseldorf bewarfen Fans von Deep Purple die Vorband mit so vielen Joghurtbechern, dass die Feuerwehr anrücken musste, um die Bühne zu säubern. Böse Zungen sagen, diese Art von Randale sei eine perfekte Vorbereitung auf den Job in Kaiserslautern gewesen.
Dorthin verschlug es Scholz 1973 aus beruflichen Gründen. In den zehn Jahren zuvor hatte er als Stadionsprecher für Borussia Dortmund gearbeitet, nun übernahm er diese Aufgabe auch am Betzenberg — und erfand dort nicht nur den bekanntesten Fangesang des Landes, sondern auch seinen Posten neu. Mit ihm am Mikrofon wurde das Stadion nämlich zu einem gefürchteten Hexenkessel. „Er dirigierte die Massen“, schrieb das Magazin „SportBild“ schon 1989. „Er machte den Betzenberg für die Gegner zur Hölle.“
Scholz, inzwischen 78 Jahre alt, ist sich keiner Schuld bewusst. „Wenn du nicht brennst, kannst du kein Feuer entfachen“, sagt er. „Mein Motto war: Wenn ich ein Tor des FCK ansage, ist das so, als ob der Papst den Segen Urbi et orbi spricht.“
Bundesweit bekannt wurde Scholz im Mai 1991, als Kaiserslautern einen wichtigen Sieg auf dem Weg zur Meisterschaft errang. Gegen Schäfers KSC holte die Elf einen 0:2-Rückstand auf und drängte auf das dritte Tor, als FCK-Trainer Karl-Heinz Feldkamp in der 90. Minute einen frischen Mann brachte. Scholz ergriff sein Mikro und sagte: „Spielerwechsel in der … 85. Minute.“ Der wütende Schäfer behauptete nach dem Spiel, wegen dieses Tricks hätte es die siebenminütige Nachspielzeit gegeben, in der das 3:2 fiel. Scholz versicherte, es habe sich um ein Versehen gehandelt. Das war natürlich eine Notlüge. „Ich habe so etwas bei vier oder fünf Spielen gemacht“, gesteht er heute und schiebt zur Entschuldigung nach: „Wir mussten doch gewinnen!“
Doch so sehr sich gegnerische Fans oft über Scholz ärgerten, sie alle (mit Ausnahme eines Vereins) sind ihm zu Dank verpflichtet, und zwar wegen der Geschichte mit den Lederhosen. Sie trug sich in einer Gaststätte in Murnau zu. Scholz war dort bei einer kleinen Feier, als ein paar angetrunkene Männer in die Wirtschaft kamen, von denen einer sich das Beinkleid zerrissen hatte. Jemand sagte „Zieht’s dem Buam die Lederhos’n aus“, und Scholz hatte diese Zeile noch immer im Kopf, als er auf der Rückfahrt das Radio einschaltete, aus dem „Yellow Submarine“ von den Beatles kam. „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“, sang er mit — und wusste, dass das ein Ohrwurm werden konnte.
Beim nächsten Besuch der Bayern am Betzenberg stimmte er über die Lautsprecher den Song an, der zum Tribünenhit der Bundesliga werden sollte. Bleibt nur noch zu klären, wann das war. In seinem Buch datiert Scholz den Moment auf das Jahr 1984. „Aber das ist falsch“, sagt er selbst. „Ich habe es nicht so mit Daten, deswegen habe ich neulich den Wirt der Gaststätte angerufen und ihn gefragt, wann die Feier stattfand. Der sagt, es war viel früher: 1978, wahrscheinlich sogar 1977.“ Vierzig Jahre später ist das Lied so frisch wie eh und je. Das gilt auch für Scholz, der 1994 im Ärger vom FCK schied und seither die Eishockeyfans der Mannheim Adler scharf macht.