Breitner: Den Bart hochzujubeln passt nicht zu mir
München (dpa) - Deutschlands Fußball-Größe Paul Breitner wird am 5. September 60 Jahre alt. In einem Interview der Nachrichtenagentur dpa spricht er über das Alter, das Buch von Philipp Lahm, seine 17 Stunden als gefühltem DFB-Teamchef und seinen Bart.
60 Jahre, ist das alt, jung oder genau richtig?
Breitner: „Alt.“
Warum?
Breitner: „Weil ich überhaupt nichts vom dem Gesäusel, 'ich fühl mich wie ein 20-Jähriger', halte. Ich habe 60 Jahre auf dem Buckel - und möchte auch nicht mehr wie ein 20-Jähriger sein.“
Wenn man auf die Karriere als Fußballer zurückschaut, dürfte das WM-Finale 1974 die stärkste Erinnerung sein - oder überraschen Sie mit einem anderen Erlebnis?
Breitner: „Wenn man irgendwo Weltmeister oder Olympiasieger geworden ist, dann ist das natürlich der absolute Höhepunkt. Es gibt aber sicher das eine oder andere Spiel, das noch mehr in Erinnerung bleibt als ein WM-Endspiel, denn da geht es nur um den Abpfiff und wer den Pokal in der Hand hat. Da versucht man Atmosphäre oder Stimmungen noch mehr auszuschalten. Es gibt aber Spiele, in denen Emotionen 90 Minuten bestimmen und solche habe ich erlebt.“
Welche?
Breitner: „Zum Beispiel das Wiederholungsspiel gegen Atletico Madrid 1974, dieses 4:0 nach dem 1:1 ist ganz weit vorn in der Rangliste der größten Erinnerungen und ein Spiel mit Real Madrid im Viertelfinale gegen Derby County. Da haben wir das Hinspiel 1:4 verloren und das Rückspiel 5:1 gewonnen vor mindestens 170 000 Leuten im Bernabeu. 120 Minuten Emotionen und Atmosphäre. Das hat einen getragen.“
Man liest in Porträts über Sie viele Charakterisierungen. Dürfen wir Sie bitten zu sagen, wie Ihnen diese Bezeichnungen gefallen. Zum Beispiel „der intellektuelle Revoluzzer auf dem Platz“...
Breitner: „Niemand weiß, was das eigentlich bedeuten soll. Es gibt immer wieder so dümmliche Floskeln wie der Querdenker, der Rebell, das steht irgendwo im Raum und da sag' ich, was versteht man darunter? Warum ordnet man einen so ein? Das ist eine zerlatschte Floskel.“
Womit wir Querdenker und Rebell auch abgehandelt hätten, es hieß auch mal Chefkritiker des deutschen Fußballs?
Breitner: „Damit kann ich genauso wenig anfangen. Ich verstehe darunter den, der die meisten Leser erreicht.“
Und das Bild „Jimi Hendrix auf dem Fußball-Platz“?
Breitner: „Das höre ich zum ersten Mal. Aber es würde zutreffen, denn die Aufruhr damals war ansatzweise so wie bei Jimi Hendrix. Das Bild ist nicht übel.“
Aber weg von den Stereotypen. In jedem Fall haben Sie gerne und direkt Missstände angesprochen.
Breitner: „Ich habe ein großes Ziel gehabt, als ich beim FC Bayern 1970 anfing: Ich habe mir gesagt, egal wie lange ich hier bin, ich werde nicht greifbar sein. Die Leute werden mit mir nicht gespielt haben und nicht alles über mich wissen. Sie werden mich nicht kennenlernen, wie ich wirklich bin. Es ist mir dann, gerade in meiner Sturm- und Drangzeit so 1970 bis 1974 gelungen, so viel Theater zu machen, dass sich darüber hinaus niemand um mich gekümmert hat. Ich habe die Leute bewusst in eine Situation gebracht, dass sie mich katalogisiert und glaubten erkannt zu haben. Es ist nach wie vor sehr angenehmen, dass ich immer noch Menschen überraschen kann, wenn ich sie an mich heran lasse.“
Fehlen denn in der heutigen Spielergeneration Typen, wie sie es einst waren?
Breitner: „Die sind nicht mehr zeitgemäß. Die Bilder wie Querdenker oder Rebell hatten einen Kern. Wenn Verantwortliche in Clubs zu meiner Zeit einen Befehl ausgesprochen haben, war es damals so, dass alle Spieler meistens genickt haben. Ich bin erzogen worden alles zu hinterfragen. Auf den ersten Befehl hab' ich die Leute damals durcheinandergebracht und geschockt, weil ich gefragt habe 'warum'? Und wenn keine vernünftige Begründung kam, habe ich gesagt: das mache ich nicht.“
Und heute?
Breitner: „Heute ist es schon alleine deswegen nicht mehr möglich, weil die Spieler schon in ganz jungen Jahren in einen bestimmten Weg gelenkt werden. Es gibt schon in sehr jungen Jahren Berater, Berater und Berater, die aufpassen, dass die Jungs nicht anecken. Das ist aber nicht nur im Fußball so, sondern in der gesamten Gesellschaft, denn der Fußball-Kader ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. So wie uns hier die Typen fehlen, fehlen sie in allen anderen Bereichen.“
Ist es denn durch diese Entwicklung heutzutage für Führungsspieler schwieriger Einfluss auf eine Mannschaft zu nehmen?
Breitner: „Es ist anders. Kinder und Jugendliche werden heute ganz anders erzogen, sie erleben eine andere Welt, die nicht mehr von Befehlen bestimmt wird. Wir haben uns in den letzten 40 Jahren bis jetzt in unserer Art miteinander und mit unseren Kindern umzugehen unheimlich verändert, genauso wie sich der Fußball, Autos oder alles andere verändert haben. Wir haben heute ein Miteinander, das es jedem jungen Menschen wahnsinnig schwer macht, sich zu einem echten Typen mit Ecken und Kanten zu entwickeln. Die Gesellschaft fordert sie zwar immer ein, aber will eigentlich keine Ausreißer. Der Fußball von heute hat keinen Platz mehr für einen Chef, Dirigenten oder Leadertypen, der von der Mittellinie Kommandos raushaut oder einem Spieler mit Worten in den Hintern tritt.“
Ist auch deshalb die Kritik aus Philipp Lahms Buch so hochgeschlagen, weil man so etwas nicht erwartet hat?
Breitner: „Nein. Die Kritik, die Philipp an ehemaligen Trainern geübt hat, das hat damit nichts zu tun. Das ist eine Sache, die gegen einen ungeschriebenen Kodex im Fußball verstößt. Das hätte vor 10, 20 oder 30 Jahren genauso Wellen geschlagen.“
Wie ist dann in Ihren Augen so ein Buch zu bewerten?
Breitner: „Ich möchte es nicht bewerten, ich möchte nur feststellen, dass dieser Aufschrei, die Verärgerung einiger Betroffener verständlich ist.“
Warum hat man Sie eigentlich nie als Trainer einer großen Mannschaft gesehen?
Breitner: „Weil ich als Bundesliga-Trainer keine Chance gehabt hätte, den Fußball in irgendeiner Weise zu verändern. Dafür habe ich 14 Jahre Kinder und Jugendliche trainiert als ersatzpädagogische Handlung. Da kann ich etwas erreichen, bewegen, formen, beeinflussen. Aber nicht in einer Bundesliga-Mannschaft. Ich habe sehr früh lernen dürfen, mich nicht von einer Gruppe abhängig zu machen. Und jeder Bundesliga-Trainer ist abhängig von seiner Mannschaft. Es besteht eine Hilf- und Machtlosigkeit, wenn das Spiel beginnt.“
Aber Bundestrainer wären Sie fast geworden...
Breitner: „Ich habe mich 17 Stunden als Teamchef gefühlt.“
Aber da ist man doch genauso abhängig?
Breitner: „Nein. Egidius Braun hatte mich um Hilfe gebeten. Er brauchte mich, wie er sagte, als eine Art Konkursverwalter des deutschen Fußballs für einen begrenzten Zeitraum. Ein weises Wort damals 1998, zu Zeiten des schlimmsten Rumpelfußballs. Da hätte ich geholfen, aber ich habe ihm gesagt, dass er mich nicht durchbringen würde beim Präsidium, weil zu viele Leute dort vor mir Angst haben. Und weil einige Herrschaften im DFB-Präsidium ihm aufgezeigt haben, dass die Benennung eines Teamchefs nicht allein Chefsache ist, hat es nicht geklappt.“
Ein Blick aufs Nationalteam von heute. Ist die Dichte an starken jungen Spielern höher als je zuvor?
Breitner: „Das stimmt. Wir haben noch nie eine so große Menge an jungen Spielern gehabt, die in der Breite schon so eine internationale Klasse darstellen.“
Sie haben sich Anfang der 80er Jahre für eine Werbekampagne einmal den Bart abrasiert. Wäre das noch mal möglich?
Breitner: „Natürlich. Was habe ich mit meinem Bart zu tun. 1982 da hatte ich, glaub ich, fünf Jahre einen Bart gehabt. Das ist doch nicht wie mein rechter oder linker Fuß. Das ist hochgejubelt worden von irgendwelchen Leuten, die gesagt haben, wie kann man nur... Da hab' ich gesagt: Leute, ich habe so 'nen knackigen Hintern, wenn mit mir jemand Werbung machen will für Klopapier, dann mach ich das. Ich war Berufsfußballer, Fußball ist mein Beruf und dazu gehört auch Werbung. Einen Bart hochzujubeln, das passt nicht zu mir.“
Und Ihr Wunsch zum Geburtstag?
Breitner: „Ich bin ein Mensch, der sich nie was wünscht weder zu Weihnachten noch zum Geburtstag oder an Silvester. Doch eins: Dass ich in Ihrer Überschrift nicht dieses dümmliche 'Paul Breitner jetzt auch ein Sechziger' lesen muss.“