#EM2016 Analyse: Nun konnte Gomez nicht einmal helfen

Düsseldorf. Seinen Geburtstag hatte sich Mario Gomez anders vorgestellt: Am Sonntag wird er 31 Jahre alt. Liebend gerne wäre er dann seiner Arbeit nachgegangen, auf dem Rasen des Stade de France, im Finale der EM 2016.

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Nun konnte Gomez nicht einmal helfen, das vorzeitige EM-Aus zu verhindern. Im Viertelfinale gegen Italien hatte er sich einen Muskelfaserriss im rechten hinteren Oberschenkel zugezogen. Von der Bank aus verfolgte er die 0:2-Niederlage im Halbfinale gegen Frankreich. Stolz könne die Mannschaft trotzdem sein und die gemeinsame Arbeit habe Spaß gemacht, lautete Gomez‘ Turnierfazit. Früher war er selten vermisst worden, am Donnerstag dafür umso mehr. Denn im Vergleich mit den Franzosen wurde deutlich, wie wichtig ein Spieler ist, der im entscheidenden Moment Tore schießt — ob eine Mannschaft vorher viele Chancen hatte oder nicht, wird dann schnell zweitrangig.

2007 hatte Gomez unter Löw im Nationaltrikot debütiert. Beim WM-Erfolg 2014 stand er nicht einmal im Kader, aber inzwischen hat Löw dessen Wert wieder zu schätzen gelernt. Seit dem Rückzug von Miroslav Klose fehlte Deutschland ein klassischer Stürmer, groß, robust, stark im Abschluss mit dem Fuß oder per Kopf — allen taktischen Finessen einer „falschen Neun“ zum Trotz, zugunsten derer auch Löw bereitwillig auf einen echten Angreifer in vorderster Reihe verzichtete. Spielfreude war in, Brechstangenfußball out. Aber auch den braucht es manchmal. Löw hatte Gomez vor dem Turnier in Frankreich als „Stürmer der letzten Aktion“ geadelt. Trotzdem ließ er ihn zum Auftakt auf der Bank. Dann erst durfte Gomez den Part des unglücklichen Mario Götze übernehmen — und schoss zwei Tore. Wenn das der Bestwert eines Teams ist, dann ist klar, woran die Titelmission gescheitert ist. Der gesperrte Verteidiger Mats Hummels brauchte nicht lange nachzudenken, ob er oder der Stürmer mehr gefehlt hatten. „Mario!“, antwortete Hummels schnell und fand: „Wir haben defensiv keinen schlechten Job abgeliefert. Es hat vor allem einer gefehlt, der den Ball reinschießt."

Thomas Müller, der aus dem rechten Mittelfeld als Vertreter von Gomez in die Spitze gerückt war, konnte seine Torflaute nicht beenden. „Es war nicht ganz einfach, wenn die Franzosen in der eigenen Hälfte stehen“, gab er zu und konnte das Halbfinale und das Turnier mit der gleichen Bilanz zusammenfassen: „Es hat ein bisschen zu den anderen spielen gepasst: Wir haben viel versucht, aber es hat nicht sollen sein.“ Die Mannschaft habe sich gut präsentiert, auch gegen Frankreich: „Als Gesamtpaket waren wir sicherlich dominant, aber wir haben Fehler gemacht. Sonst hätte Frankreich nicht gewonnen.“

Auch für Toni Kroos war es bitter, „nach dem besten Spiel von uns nach Hause zu fahren. Als Mannschaft haben wir uns gut gesteigert“, sah der 26-jährige Mittelfeldspieler auch Positives. Er hatte durch die taktische Umstellung und die Hereinnahme von Emre Can für Sami Khedira eine etwas andere Rolle, spielte aber wie alle Spieler im Mittelfeld sehr variabel und wechselte Positionen, so dass sich Can auch mal in die Angriffe einschalten konnte. „Mein Spiel hat sich dadurch überhaupt nicht verändert“, befand Kroos, der einen anderen entscheidenden Unterschied ausmachte im Vergleich zum WM-Erfolg in Brasilien: „Vor zwei Jahren hatten wir viele enge Spiele auf dem Weg zum Titel. Da war auch mal etwas Glück dabei. Heute hatten wir es definitiv nicht.“

Kroos wollte nicht nur das Schicksal als Erklärung heranziehen. „Wenn man uns etwas vorwerfen kann, dann, dass wir nicht so kaltschnäuzig waren wie vor zwei Jahren. Gegen Frankreich haben wir heute gute Lösungen gefunden, aber keine Tore gemacht.“ Sieben Treffer gelangen der DFB-Elf nur in den sechs Turnierspielen. Zwei gingen auf das Konto von Verteidigern, zwei auf das von Gomez.

Es wäre am Ende wohl des Guten zu viel gewesen, wenn Joachim Löw auch für drei ausfallende Spieler die richtige personelle Antwort aus dem Ärmel gezaubert hätte, so wie es ihm zuvor in den Spielen gelungen war. „Die Ausfälle waren nicht ganz so einfach zu verkraften in so einem wichtigen Spiel. Der Ausfall von Jérôme Boateng war dann eine weitere Schwächung, auch wenn die anderen ihre Sache gut gemacht haben. Am Ende hatten wir vier wichtige Spieler nicht mehr“, sagte Löw, wollte darin aber keine Ausrede sehen.

Die Deutschen hatten das Spiel trotzdem im Griff. Am Ende aber reichten den Franzosen wenige Chancen, um zwei Tore zu erzielen und ins Finale einzuziehen. „Es ist sehr hart zu wissen, dass wir eine super erste Halbzeit gespielt haben und dann bist du mit 0:1 im Rückstand, ohne dass Frankreich was dafür getan hat“, war Müller frustriert. Druckvoll blieb das DFB-Spiel, aber es war nicht mehr ganz so zielstrebig, nicht mehr ganz so geordnet. „Da plätschern dann die Minuten dahin“, ärgerte sich Müller und haderte: „Wir haben alles reingehauen, aber das Glück war auf jeden Fall nicht auf unserer Seite, weder hinten noch vorne.“

Die bislang so starke Abwehr leistete sich ungeahnte Aussetzer. „Wir müssen schauen, dass wir die individuellen Fehler abstellen, die wir eigentlich vor allen Gegentoren gemacht haben“, sagte Kroos. Vorwürfe formulierte er nicht, aber auch die beste Analyse des Gegners sei bei solchen Fehlern nicht mehr viel wert. „Solche Aktionen wie vor dem Elfmeter, wie sie uns nun zweimal passiert sind, die kann man vorher schwer vorbereiten.“

Das 0:1 nach Bastian Schweinsteigers Handspiel kurz vor der Pause sah Thomas Müller nicht einmal als Knackpunkt: „Ein Tor kann man immer aufholen. Das zweite war ein Genickbruck, das 0:2 hat richtig weh getan.“ Lange werde es dauern, bis er einschlafen könne, hatte Joshua Kimmich geahnt. Er hatte den Ball vor dem zweiten Gegentreffer im Strafraum verloren.

Um noch einzugreifen, fehlte die Zeit, „da lag der Ball schon im Tor“, sagte er selbstkritisch. „Vielleicht muss ich in manchen Situationen nicht versuchen, schön zu klären, sondern auch mal den Ball wegbolzen“, lautete eine Erkenntnis des 21-Jährigen. „Es war nicht alles perfekt. Es waren Fehler dabei, aber ich hoffe, dass ich mich auf der Position empfehlen konnte“, sagte Kimmich. Der Youngster ist eine der Zukunftshoffnungen, der ohne große Erwartungen mit nach Frankreich gefahren war, ins Spiel geworfen wurde und die Prüfungen meistens bestand, auch wenn noch Zeit ist zu reifen. Eine Erkenntnis hatte sich in Marseille vor allem eingebrannt: „Dass nicht immer die beste Mannschaft gewinnt.“

„Beim ersten Turnier kann man nicht erwarten, dass alles funktioniert“, nahm Kroos den jungen Teamkollegen in Schutz und lobte: „Er hat uns schon einen kleinen Push von der Seite gegeben und das ordentlich gemacht.“ Überhaupt ist Kroos vor der Zukunft nicht bange: „Einige haben schon viele Minuten Einsatzzeit bekommen und das gut umgesetzt. Andere haben weniger gespielt, aber wir haben gesehen, dass immer wieder Qualität nachkommt.“

Erst einmal gilt es aber, den Trotz und die Enttäuschung zu überwinden. „Wir haben uns als Mannschaft gut präsentiert“, fand Thomas Müller, „aber Fußball ist ein Erfolgssport. Ob man im Halbfinale ausscheidet oder schon vorher ist nicht entscheidend. Es geht darum Titel zu gewinnen. Die bleiben in Erinnerung.“ Der Münchner wird noch Zeit brauchen, um das Turnier „abzuhaken, in dem wir nicht wirklich viel falsch gemacht haben“. Unter dem Strich sei „die ganze Arbeit, die wir da reingesteckt haben, umsonst“ gewesen. Ober er sich das Finale am Sonntag anschaue? „Das kann ich schon, aber…“ blieb er den Rest seiner Antwort schuldig. Ob Thomas Müller, Mario Gomez oder irgendein anderes Mitglieder aus der deutschen Mannschaft oder dem Trainer- und Betreuerstab: Sie alle hatten den Sonntagabend ganz anders geplant.