Glückliche Spanier „nicht der große Favorit“

Danzig (dpa) - Dem erleichtert und erschöpft wirkenden Vicente del Bosque war sofort klar: In dieser Form kann Spanien seinen EM-Titel kaum verteidigen.

„Es war ein schwer erkämpfter Sieg, wir haben gelitten. Das war keine brillante Leistung“, gestand der Trainer nach dem äußerst glücklichen 1:0 (0:0) gegen die vor einer Sensation stehenden Kroaten. „Das Weiterkommen muss uns motivieren, wieder mit unserer gewohnten Philosophie weiterzuspielen.“ Torschütze Jesús Navas pflichtete bei: „Wir haben viel durchgemacht, aber wir haben gewonnen.“

Nachdem del Bosque im Morgengrauen das Gruppenfinale per Video noch einmal analysiert hatte, kam er zu dem Schluss: „So schlecht waren wir nicht, Kroatien hatte nur eine echte Chance.“ Der 61 Jahre alte Weltmeister-Coach warnte im EM-Quartier Gniewino aber vor zu großen Erwartungen: „Wir sind von Bettelmännern zu Königen aufgestiegen und wissen das nicht zu schätzen.“

Kiebitz Joachim Löw konnte den schwachen Auftritt des Welt- und Europameisters am Montagabend in der Arena Danzig allerdings locker beobachten. Anders als bei der rauschenden Fußball-Fiesta vier Tage zuvor gegen Irland fanden die Kombinations-Künstler kein Mittel, um die taktisch klug agierenden Kroaten mit ihrem Kurzpass-Wirbel „Tiki taka“ schwindlig zu spielen. Nichts war zu sehen, was dem Bundestrainer oder auch dem Viertelfinal-Gegner Frankreich hätte Sorgen bereiten können.

Aber nicht nur die ungewöhnlich vielen Fehlpässe und die mangelnde Kreativität sorgten für Erstaunen. Auch del Bosques Einwechslung löste Kopfschütteln aus. Als der Trainer nach einer Stunde Navas für Fernando Torres brachte, spielte die Selección wieder ohne Mittelstürmer. Keiner war da, um die Flanken des Rechtsaußen zu verwerten. Dass der agile Flügelflitzer vom FC Sevilla schließlich zum Matchwinner wurde, war fast schon eine Ironie.

Del Bosque verteidigte am Tag darauf sein System: „Damit sind wir bislang gut gefahren. Wir dürfen daran nicht zweifeln. Am schlimmsten wäre es, wenn wir jetzt all das infrage stellen, was uns unseren Erfolg eingebracht hat.“ Andrés Iniesta forderte von Fans und Medien ebenfalls mehr Geduld: „Wir haben weiter den Traum, den Titel zu erobern“, sagte der Mittelfeld-Star des FC Barcelona. „Den wird uns niemand nehmen. Vertraut unserer Mannschaft, unabhängig wer spielt.“

Für Slaven Bilic sind die Spanier indes nicht länger „der große Favorit“. Der nach sechs Jahren zu Lokomotive Moskau wechselnde Nationalcoach der „Kockasti“ sagte: „Es gibt andere Teams, die hungriger sind und viel schneller spielen.“ Spanien sei zwar das beste Team der Welt, aber „wir waren nahe dran, sie zu stoppen“.

Der Ex-Schalker Ivan Rakitic (59.) und der für Bayern Münchens Danijel Pranjic eingewechselte Ivan Perisic vom deutschen Meister Borussia Dortmund (79.) hatten gute Möglichkeiten. Iker Casillas parierte vor allem den Rakitic-Kopfball aus Nahdistanz phänomenal. „Dafür haben wir ihn“, sagte del Bosque gelassen. Der Keeper und Kapitän erklärte: „Ich bin froh, dass ich den halten konnte.“ Für die Zeitung „El País“ war dies der entscheidende Moment des Spiels: „Casillas verhindert einen Absturz Spaniens.“

Nicht nur der erst in der 88. Minute durch Navas sichergestellte Gruppensieg, sondern der Viertelfinal-Einzug generell hing am seidenen Faden. „Das war ein enges Spiel gegen einen starken Gegner“, sagte Iniesta. Del Bosque richtete den Blick bereits nach vorn. Egal wie der kommende Kontrahent heißt, ist dem Trainer klar, dass sein Team am Samstag in Donezk wieder seine klassischen Tugenden und Qualitäten abrufen muss. Mit einer lockeren, nicht öffentlichen Übungseinheit in Gniewino sollten Müdigkeit und eventuelle Selbstzweifel aus den Köpfen und Beinen.

„Entscheidend ist, dass es nach einem schlechten Tag wieder aufwärtsgeht“, verwies del Bosque auf eine alte Fußballer-Weisheit. Mittelfeldmann Xabi Alonso meinte: „Es war doch klar, dass wir während des Turniers auch eine schwierige Phase durchstehen müssen.“ Im Viertelfinale soll das kein Thema mehr sein - dann steht wieder „Tiki Taka“ auf der Tagesordnung.