Italiener haben keine Angst vor Spanien
Krakau (dpa) - „L'Italia è viva - Italien lebt!“, ruft Abwehrrecke Giorgio Chiellini im Krakauer Casa Azzurri. Und dabei blitzt vor dem Auftaktknüller in Gruppe C gegen Spanien am Sonntag pure Angriffslust in den Augen des Juve-Stars auf.
Trotz Wettskandals, Buffon-Affäre und einer Not-Abwehr um Daniele De Rossi glauben die Azzurri in Danzig an einen Sieg gegen den Weltmeister und Titelverteidiger. „Spanien ist die stärkste Mannschaft der Welt, aber auch sie ist schlagbar“, stellte De Rossi in Krakau fest.
Die von vielen abgeschriebenen Italiener wollen nicht klein beigeben. Und angeschlagen sind sie gefährlicher denn je, warnt nicht nur DFB-Teammanager Oliver Bierhoff. Die Wettaffäre hat ihr Image angekratzt, nicht aber ihr Selbstbewusstsein. „Wir sind Italien und haben vor niemandem Angst“, tönt Mittelfeldspieler Claudio Marchisio, der zusammen mit Thiago Motta Italiens Regisseur Andrea Pirlo in der Zentrale flankieren soll. Neben Pirlo stehen mit Torwart Gianluigi Buffon, De Rossi und dem Ex-Wolfsburger Andrea Barzagli nur noch vier Weltmeister von 2006 im Team.
In ihrem EM-Quartier vor den Toren Krakaus und beim Training im Stadion blüht die Squadra Azzurra förmlich auf. Am Donnerstag bekam Nationaltrainer Cesare Prandelli seine spielfreudigen Jungs morgens gar nicht mehr vom Platz, blies das zweite Training kurzfristig ab.
Seine Azzurri sollen gegen Spanien vor Kraft und Wut strotzen, sich den Skandal-Frust von der Seele ballern. Die depressive Stimmung ist längst verflogen, die Last des Skandals in der Heimat abgefallen. „Endlich frische EM-Luft“, jubelt Chiellini, der die Atmosphäre im EM-Trainingslager in Florenz am Ende unerträglich fand.
Vor lauter Vorfreude auf den EM-Start haben sie ihre drei Niederlagen vor dem Turnier in Folge vergessen, die WM-Blamage mit dem Vorrunden-K.o. in Südafrika sowieso. Auch dass sie seit sieben Monaten kein Tor mehr gemacht haben, haben sie verdrängt. Italien glaubt, Titelfavorit Spanien tatsächlich auf Augenhöhe begegnen zu können. „Schließlich haben wir das letzte Freundschaftsspiel gegen Spanien vor einem Jahr mit 2:1 gewonnen“, sagen Tifosi.
Das wohl exzentrischste Stürmerduo der EM mit Antonio Cassano und Mario Balotelli brennt auf den Anpfiff. Die unberechenbar-genialen Angreifer sehen in der EM die Chance ihres Lebens. Die Defensive der Azzurri aber ist eine Riesenbaustelle: Der linke Stammverteidiger Domenico Criscito wurde wegen seiner Verwicklung in den Wettskandal kurz vor der EM ausgemustert. Innenverteidiger Barzagli leidet im EM-Quartier in Krakau unter einer Wadenzerrung.
Typisch italienisch versucht Prandelli, aus der Not eine Tugend zu machen und beordert Mittelfeldstar De Rossi als Abwehrchef in eine Dreierkette vor Torwart Buffon. „De Rossi alla Beckenbauer“, titelte die „Gazzetta dello Sport“ über die Abwehr-Premiere des Römers. Der grimmig guckende Blondschopf wirkte zwei Tage vor dem Spanien-Spiel nicht begeistert über seine „ungewohnte Rolle“, stellt sich aber „bereitwillig in den Dienst der Mannschaft“. „Ich bleibe Mittelfeldspieler, bin aber nicht verzweifelt, weil ich jetzt in der Abwehr spiele“, betonte der 30-Jährige. Der etatmäßige Chef Chiellini rückt auf die linke Seite und wischt alle Zweifel an De Rossis Defensiv-Qualitäten vom Tisch: „De Rossi ist ein ganz Großer. Der kann das!“
Prandelli nimmt den Wettskandal, den Wirbel um Buffons lange bekannte Wettleidenschaft, den wegen des Erdbebens in Italien ausgefallenen Test gegen Luxemburg, die Personalprobleme und die bittere 0:3-Testspielpleite gegen Russland mit Galgenhumor: „Einen Vorteil habe ich: Wir haben Spanien nichts über uns verraten!“