Löw setzt auf Leitfigur Schweinsteiger
Marseille (dpa) - Der Weltmeister spielt erneut gegen ein ganzes Land - und der Kapitän soll wieder als kampfstarke Leitfigur vorangehen. Rechtzeitig vor dem emotionalen Halbfinale gegen den EM-Gastgeber Frankreich in Marseille hat sich der angeschlagene Bastian Schweinsteiger zurückgemeldet.
Beim Abschlusstraining am Mittwoch lief der 31 Jahre alte Anführer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft voran - und war bester Laune.
Beim verbalen Vorspiel am Abend im Stade Vélodrome verzichtete Joachim Löw überraschend auf jedes Pokerspiel um seinen Käpt'n. „Bastian Schweinsteiger wird auf jeden Fall beginnen“, verkündete der Bundestrainer. Die Ausfälle des gesperrten Mats Hummels sowie der verletzten Sami Khedira und Mario Gomez wiegen schwer, und Löw will auf die Erfahrung des 119-maligen Nationalspielers nicht verzichten, in einem Spiel, in dem er den Franzosen selbstbewusst einen extremen Kampf ankündigt. „Ich glaube, wir werden der härteste Gegner sein, den Frankreich in diesem Turnier bislang hatte“, erklärte Löw.
Schweinsteiger wird die deutsche Elf erstmals im Turnier auf das Spielfeld führen. Im Abschlusstraining habe der 31-Jährige „keinerlei Beschwerden“ am rechten Knie gehabt. „Er hat gegen Italien gezeigt, dass er die Kraft hat, die Physis“, sagte Löw. Es sei für seine Mannschaft ganz wichtig, so einen erfahrenen Turnierspieler auf dem Feld zu haben - wenn auch vielleicht nicht über die komplette Zeit.
Gerade gegen die körperlich robusten Franzosen wird am Donnerstag bei angesagten Temperaturen von 30 Grad eine überragende Fitness gebraucht. Die stolze Equipe Tricolore mit 66 Millionen Landsleuten im Rücken ist im achten EM-Halbfinale eines DFB-Teams eine hohe Hürde. Sogar im idyllisch-ruhigen Kurort Évian stimmten sich die Fans der „Blauen“ schon mit einem Autokorso auf die Fußball-Kraftprobe ein, bevor der DFB-Tross am Mittwoch in Richtung Marseille aufbrach. „Die Franzosen haben mehr und mehr Selbstvertrauen bekommen“, betonte Teammanager Oliver Bierhoff.
Gerade dadurch fühlt sich der Gastgeber-Schreck in Schwarz-Rot-Gold besonders herausgefordert. „Fürchten tun wird uns definitiv nicht“, sagte Toni Kroos bei der Pressekonferenz in Marseille. „Angst gehört nicht zu den Dingen, die bei uns in der Mannschaft vorherrschend sind“, verkündete auch Thomas Müller, der nach dem WM-Triumph vor zwei Jahren mit aller Macht das besondere Titel-Double anstrebt. 20 Jahre nach dem EM-Triumph im Londoner Wembley-Stadion will die aktuelle Weltmeister-Generation ihre eigene erfolgreiche Europameisterschafts-Geschichte schreiben.
Dass Löw sein Team im Stade Vélodrome auf mehreren Positionen verändern muss, will der Bundestrainer nicht in den Vordergrund stellen. Klagen ist Löw fremd. Er wirkte nach der Ankunft in Marseille sehr entspannt. Er hat einen klaren Plan, auch seine Personalauswahl war frühzeitig abgeschlossen. „Im Laufe des Nachmittags habe ich alle Aufstellungsfragen beantwortet.“ Über Schweinsteiger hinaus verriet sie der 56-Jährige aber nicht.
Shkodran Mustafi könnte in die Abwehr-Dreierkette rücken, Julian Draxler in den Offensivverbund. Die Ausfälle haben im deutschen Team sogar zu einer „Jetzt-erst-recht-Stimmung“ geführt. „Es ist natürlich bitter für die Mannschaft und die Spieler, die es betrifft. Das muss man als Mannschaft auffangen. So gut aufgestellt in der Breite waren wir noch nie, was die Qualität unserer Einzelspieler betrifft“, sagte Antreiber Müller. Auch die Franzosen gehen mit großem Respekt in die Partie und kämpfen gegen ein Deutschland-Trauma. Bei den WM-Turnieren 1982, 1986 und 2014 waren sie jeweils an der DFB-Elf gescheitert.
Zudem haben sich die besten deutschen Kicker bei großen Turnieren seit der EM 1972 in Belgien in Auseinandersetzungen mit den Gastgebern immer durchgesetzt - zuletzt bei der WM 2014 mit 7:1 gegen Brasilien. Auch da hatte ein ganzes Land hinter der Seleção gestanden - und die war an dem Druck förmlich zerbrochen. Der Heimvorteil könne „Euphorie“ bedeuten, aber auch „einen gewissen Druck“, meinte Kroos.
Löw will „nicht zurückschauen“. Auch das 1:0 gegen Frankreich vor zwei Jahren im WM-Viertelfinale „sagt heute nichts mehr aus, weil die Franzosen jetzt auch etwas anders spielen.“ Vor allem gegen die französische Offensive mit Olivier Giroud, Antoine Griezmann und Dimitri Payet, die im bisherigen Turnier zusammen schon zehn Tore erzielten, muss die deutsche Defensivabteilung auf der Hut sein.
„Frankreich hat die beste Chancenverwertung. Die Franzosen werden mit Wucht und mit ihrer Physis nach vorne spielen“, sagte Löw. Dagegen müsse sich seine Mannschaft als Kollektiv stemmen. „Die Geschlossenheit muss stimmen, wir müssen kompakt und eng stehen. Wir spielen nicht nur gegen eine Mannschaft. Wir spielen gegen ein ganzes Land.“
Die voraussichtlichen Aufstellungen:
DEUTSCHLAND: 1 Neuer - 4 Höwedes, 17 Boateng, 2 Mustafi - 21 Kimmich, 7 Schweinsteiger, 18 Kroos, 3 Hector - 8 Özil, 13 Müller, 11 Draxler
FRANKREICH: 1 Lloris - 15 Sagna, 4 Rami, 21 Koscielny, 3 Evra - 19 Pogba, 14 Matuidi - 18 Sissoko, 7 Griezmann, 8 Payet - 9 Giroud
Schiedsrichter: Rizzoli (Italien)