Der Turniertrainer und Missionar - Löw ruht im EM-Tunnel

Marseille (dpa) - Mario Gomez verletzt. Sami Khedira verletzt. Mats Hummels gesperrt. Und was macht Joachim Löw? Er bleibt gelassen und gibt sogar schon am Vorabend des EM-Halbfinales gegen Frankreich den Einsatz von Bastian Schweinsteiger bekannt.

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Nichts scheint ihn bei der EM in Frankreich aus dem Gleichgewicht bringen zu können. Der gereifte Turniertrainer Löw jammert nicht, sondern er verkündet vor der Semifinal-Herausforderung in Marseille gegen den Gastgeber einfach: „Ich liebe solche K.o.-Spiele gegen so starke Mannschaften.“ Löw ist in seinem Element. Es sind die Turniertage, die den Beruf des Bundestrainers für ihn zu seinem Traumjob machen.

„Ich weiß nicht, ob ihn etwas aus dem Gleichgewicht bringen kann“, sagte Thomas Müller, der seit sechs Jahren den Bundestrainer hautnah erlebt. Die Gelassenheit, die Energie, das Selbstvertrauen, das Löw vor dem großen Kräftemessen am Donnerstag in der heißen Atmosphäre des Stade Vélodromes verströmen will, ist keine Show.

„Er wirkt auch auf uns sehr zuversichtlich. Er merkt, welche Qualität und welche Geschlossenheit die Mannschaft im Training zeigt. Das gibt ihm ein gewisses Vertrauen“, schilderte Müller die Innenansicht jenes Mannes, der auch bei seinem fünften Turnier als Chefcoach die deutsche Nationalmannschaft wieder unter die besten Vier führte.

Die Bilanz spricht für sich, sie ist unerreicht. Nur Helmut Schön schaffte fünf Halbfinalteilnahmen, aber nicht am Stück. Und wenn Löw in Frankreich den Titel holen sollte, dann hätte er zwei Jahre nach dem WM-Triumph in Brasilien eine Ära geprägt. Nur Schön, dem legendären Mann mit der Mütze, gelang 1972 (EM) und 1974 (WM) ebenfalls mit dem DFB-Team das außergewöhnliche Titel-Double.

Löw hat eine erstaunliche Entwicklung genommen in zwölf Jahren beim DFB. Er hat nicht nur das Nationalteam fußballerisch entwickelt, er ist auch selbst an seinen Aufgaben, an Erfolgen und Misserfolgen gewachsen. Bis zur endgültigen Titelreife dauerte es acht Jahre.

Er musste Entscheidungsfreude lernen. Er hat sich im DFB eine totale Unabhängigkeit geschaffen. Er könnte seinen Vertrag, der bis zur WM 2018 läuft, jetzt schon verlängern bis ins nächste Jahrzehnt. Er könnte den Betreuerstab weiter aufblähen, vermutlich sogar eine Fußpflegerin einstellen oder einen Frisör. Als zweiten Co-Trainer hat er Marcus Sorg bei seinem fünften Turnier inzwischen dabei.

Löw musste aber auch Widerstände durchbrechen im einstigen Vorstopperland Deutschland, in dem Kämpfen und Rennen über alles ging, die sogenannten deutschen Tugenden glorifiziert wurden.

Es gab einen erstaunlichen Moment, an den sich Wegbegleiter der gesamten Löw-Zeit beim DFB gerne erinnern. In einem finsteren Presseraum im Stadion von Servette Genf dozierte Löw in der Vorbereitung auf die WM 2006 über die Mängel des deutschen Fußballs und der Bundesliga. Der Assistent von Jürgen Klinsmann erlaubte sich eine schonungslose Bestandsaufnahme. Ein Raunen ging durch den Raum, aber nicht durch das Land. Es hatte nur der Co-Trainer gesprochen.

Als Löw Chef wurde, brachte er die gemeinsam mit Klinsmann ausgebrachte Saat zum Blühen. Fußball mit Esprit war Löws Credo. Flache Hierarchien. Wunschelf, Stammspieler, alles kalter Kaffee. Es gab plötzlich die falsche Neun im Sturm. Ersatzspieler wurden zu „Spezialkräften“ aufgewertet. Nur der „ewige Poldi“ überlebte alle Entwicklungen. Löw verbot in der Spieleröffnung lange, hohe Bälle, die jetzt, da er den Fußballwandel bei Deutschlands Vorzeigeteam vollzogen hat, wieder in sein dürfen. Jérôme Boateng schlägt sie reihenweise. Hummels darf das sogar wieder mit dem Außenrist.

Löw kann zum Missionar werden, wenn er darüber doziert, wie Fußball funktioniert. Als Weltmeister kann er die Deutungshoheit reklamieren, wie er es nach seiner durchaus riskanten Systemumstellung von der Vierer- zur Dreierkette im Viertelfinale gegen Italien tat. Eine taktische Ausrichtung allein an den eigenen Stärken, ohne die Berücksichtigung der gegnerischen Qualitäten, verteufelt Löw: „Das wäre ja fahrlässig, das wäre völlig naiv und unprofessionell.“

Löw hat sich als Trainer auch schon verzockt und verrannt. Aber er hat dazugelernt. Das „Medienrauschen“ während eines Turniers nimmt er hin. Das DFB-Pressepodium in Évian nutzte er zugleich öfter als zwei Jahre zuvor in Brasilien. Er diktiert und setzt so die Themen.

„Bei einem Turnier bin ich in meiner eigenen Welt, in meinem Tunnel“, sagte er vor der EM. Welche Ideen durch sein Hirn spuken, lassen sich schwieriger als früher entschlüsseln. Sein 23-Mann-Kader schien unausgewogen. Aber er hatte einen Plan mit Joshua Kimmich. Er wusste, warum er seinen Kapitän mitzog. Er ahnte vielleicht sogar, dass er einen Youngster wie Julian Weigl noch einmal brauchen könnte. „Jogi Löw ist schon ein extremer Taktikfuchs“, sagte der verletzte Khedira.

„Man darf nicht vergessen, dass Jogi Löw seit zehn Jahren Cheftrainer und seit zwölf Jahren beim DFB ist. Er kennt jeden kleinsten Winkel von seinem Staff und von Turnieren“, bemerkte Müller. „Er kann eine gewisse Erfolgshistorie aufweisen und weiß in diesen Situationen auch, wie er zu reagieren hat. Das gibt ihm die Gelassenheit.“

Die Zuversicht, die der Chef ausstrahlt, wirke sich positiv auf das Team aus, betonte Müller: „Er ist sehr zielstrebig, aber nicht hektisch. Während der 90 Minuten ist es natürlich wieder etwas anderes, da ist man auch als Trainer aufgeladen.“ Über Joachim Löw am Spielfeldrand staunt auch Joachim Löw. „Da passieren viele Dinge im Unterbewusstsein“, bemerkte er über sehr spezielle EM-Momente. „Wir sind bei der Arbeit. Da wird es manchmal hitzig.“

Beim Spiel vor 50 000 oder 70 000 Zuschauern, das weiß Löw, ist er seinen Spielern und dem Gegner ausgeliefert. „Es ist schwierig, als Trainer wirklichen Einfluss zu nehmen.“ Aber er liebt die Abende auf der großen Showbühne, auch wenn er sich im Nachhinein bisweilen über sich selbst wundert. „Trainer leiden mit, freuen sich mit, leben mit, arbeiten mit“, sagte Löw vorm Frankreichspiel. „Wenn man hinterher Bilder sieht, fragt man sich: Habe ich mich wirklich so verhalten?“