Löcherstopfer & Energiebündel Gastgeber Russland träumt vom Wunder
Moskau (dpa) - Erstmals ist Russland stolzer Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft - und das größte Land der Erde will die historische Rolle gut ausfüllen. Zu den Favoriten zählt die Sbornaja nicht.
Das ist dem Nationaltrainer, der früher in Deutschland spielte, gerade recht.
Das rasselnde Tänzeln der Fußballschuhe auf dem Flur. Der Gang durch den elend langen Korridor. Schließlich der kurz geschorene Rasen. Winkende Hände grüßen eine brodelnde Kulisse. Unter dem roten Trikot klopft das Herz schneller. Endlich ist der Moment da. Donnerstag, 14. Juni 2018. Eröffnungsspiel der Heim-WM, Russland gegen Saudi-Arabien in Moskau. Der Beginn einer Erfolgsstory? Daran glauben nur wenige beim Gastgeber. Aber alle hoffen. Es ist diese Herausforderung, die das größte Land der Erde bewegt.
Vor zehn Jahren verzückte Russland bei der EURO 2008 die Sportwelt mit unbeschwertem. Die Elf um Andrej Arschawin und Roman Pawljutschenko mischte Einfallsreichtum mit Technik und scheiterte erst im Halbfinale am späteren Turniersieger Spanien. Daran konnte die Sbornaja aber nicht anknüpfen. Zuletzt scheiterte das Team vor zwei Jahren bei der Europameisterschaft in Frankreich kläglich - begleitet von skandalösen Fan-Ausschreitungen. Nun soll die Heim-WM den russischen Fußball aus der Lethargie reißen.
Auf Platz 66 der FIFA-Weltrangliste steht Russland derzeit - so schlecht wie nie. Und die jüngsten Ergebnisse sind nicht unbedingt vielversprechend: gegen Frankreich 1:3, gegen Brasilien 0:3. Beim Confed-Cup im eigenen Land gab es im vergangenen Jahr Niederlagen gegen Portugal (0:1) und Mexiko (1:2) und nur einen Sieg gegen Neuseeland (2:0). Und doch gelang es den Schützlingen von Trainer Stanislaw Tschertschessow, individuelle Klasse aufblitzen zu lassen. Ball halten, Tempo verschleppen, Risiko kleinhalten - so lautet Tschertschessows Devise. Und Russlands Fußballexperten murren wenig.
Tschertschessow, einst Bundesliga-Torwart bei Dynamo Dresden, liebt die Improvisation. Seit er das Amt im Juli 2016 antrat, beherrscht die Mannschaft plötzliche Rhythmuswechsel. Der Coach will das Team nach und nach aus dem taktischen Würgegriff befreien. Die Hoffnung auf das Viertelfinale bei der Heim-WM lebt, geboren aus dem Debakel der EURO in Frankreich und aus Tschertschessows Strategie.
Es gibt eine klare Hackordnung. Wortführer sind Zügler des Risikos wie Torwart Igor Akinfejew und Abwehrspieler Sergej Ignaschewitsch. Dann kommen wuselnde Löcherstopfer wie die Ex-Bundesligaprofis Roman Neustädter und Konstantin Rausch sowie Dmitri Kombarow. Im Mittelfeld wirkt Alexander Samedow, der praktisch jeden Grashalm zwischen den beiden Strafräumen berührt.
Und da sind dann noch die offensiven Energiebündel: Denis Gluschakow, Alan Dsagojew und Fjodor Smolow. Zum Schluss die Talente Alexander Golowin und die Zwillinge Alexej und Anton Mirantschuk. Der verletzte Stürmer Alexander Kokorin wird die WM wohl verpassen - ein schwerer Schlag für Tschertschessow, der das aber nicht als Ausrede gelten lassen will: „Andere Länder haben die gleichen Probleme wie wir.“
Saudi-Arabien, Ägypten und Uruguay heißen Russlands Gruppengegner: keine übermächtigen Rivalen. Danach würden in der K.O.-Runde wohl Spanien oder Portugal warten. Tschertschessow baut keine Luftschlösser. Er weiß, dass der Gastgeber nicht zu den Favoriten dieser WM gehört. Aber zu den positiven Überraschungen des Turniers - dazu will Russland ganz sicher zählen. Unterschätzt zu werden: Das ist wohl das Beste, was der Sbornaja passieren kann.