Hummels köpft Deutschland ins WM-Halbfinale
Rio de Janeiro (dpa) - Das war nichts für schwache Nerven. Im Viertelfinale gegen Frankreich überzeugte die DFB-Auswahl durch ihren Kampfgeist und darf weiter vom vierten WM-Triumph träumen. Hummels wird zum Matchwinner, Lahm und Neuer sind die Säulen.
Jetzt wollen Joachim Löw und seine kaputten WM-Kämpfer auch den ganz großen Coup. Nach dem 13. Einzug in ein WM-Halbfinale durch das 1:0 (1:0) gegen Frankreich gönnten sich die deutschen Spieler und der Trainerstab in Rio nur einen kurzen Moment des Jubels, denn der Brasilien-Trip der DFB-Reisegruppe um Matchwinner Mats Hummels soll erst in gut einer Woche im WM-Finale an gleicher Stätte enden. In der Vorschlussrunde muss der neue Weltranglisten-Erste am Dienstag in einer Neuauflage des WM-Endspiels von 2002 aber erst noch Rekordweltmeister Brasilien (2:1 gegen Kolumbien) aus dem Weg räumen - und kann dabei gleichzeitig Revanche nehmen für das 0:2 von Yokohama.
Die Seleção muss dabei auf Superstar Neymar verzichten. Der 22-Jährige fällt wegen eines Wirbelbruchs für den Rest der WM aus und muss vier bis sechs Wochen pausieren. „So wie ich es sehe, kann er nicht spielen“, hatte Trainer Luiz Felipe Scolari schon direkt nach dem 2:1 im Viertelfinale gegen Kolumbien gesagt. Neymar war in der 86. Minute nach einem Foul von Juan Zúñiga vom Platz gebracht worden. Im brasilianischen Fernsehen waren Bilder zu sehen, wie Neymar auf einer Trage am Tropf in ein Krankenhaus getragen wurde.
„Die Mannschaft hat bravourös gekämpft, kompakt gestanden und das klasse gelöst“, lobte Bundestrainer Löw nach der Hitzeschlacht in Rio de Janeiro und berichtete aus der Kabine: „Die Spieler sind richtig platt und todmüde.“ Der neue Torwart-„Titan“ Manuel Neuer, der in der Schlusssekunde mit einer Glanzparade gegen Karim Benzema den Sieg festhielt, und Vizekapitän Bastian Schweinsteiger animierten die schwarz-rot-goldenen Fans in der Kultstätte Maracanã nur kurz zu einer Jubel-Welle, dann war das Halbfinale gegen Gastgeber Brasilien in Belo Horizonte schon in den Köpfen. „Mal sehen, was das für ein Spektakel wird“, sagte Neuer. Miroslav Klose war als einziger Akteur schon 2002 dabei.
„Das ist der nächste Traum, der in Erfüllung gegangen ist. Ich hoffe, dass unser Weg noch nicht zu Ende ist“, sagte Hummels völlig ausgepumpt. Auch DFB-Präsident Wolfgang Niersbach atmete tief durch. „Ich bin total happy. Die Mannschaft hat eine super Einstellung. Wir sind zum vierten Mal nacheinander im Halbfinale. Es ist alles drin“, analysierte Niersbach und stellte unabhängig vom WM-Ausgang klar: „Diese Endrunde ist für den DFB ein Erfolg.“ Doch die Reiseroute ist klar. „Wir wollen nach Rio zurückkommen. Wir wollen den Titel holen“, betonte Teammanager Oliver Bierhoff.
Exakt 60 Jahre nach dem „Wunder von Bern“ machte die DFB-Auswahl einen großen Schritt zum vierten WM-Triumph nach 1954, 1974 und 1990. Kopfball-Schreck Hummels versetzte in der 12. Minute mit seinem zweiten Turniertreffer der Équipe tricolore den K.o. und sorgte bei den Fans in der Heimat endgültig für riesen WM-Euphorie. „Wir haben guten Fußball gezeigt und wussten, worum es geht. Die Leistung war Halbfinal-würdig“, kommentierte Neuer.
Mit dem überzeugenden Kapitän Philipp Lahm wieder als rechtem Verteidiger schaffte Löw die Grundlage für den umjubelten Vorstoß unter die besten Vier, wo die DFB-Auswahl bereits in den vergangen drei Turnieren (2002, 2006, 2010) stand. „Glückwunsch, Jungs! 4 halbfinals in Serie... Wahnsinn“, twitterte Basketball-Star Dirk Nowitzki.
Nach kontroversen Diskussionen auch in seinem engsten Stab verwarf Löw sein bisheriges Personalkonzept und beorderte Bayern-Profi Lahm aus dem Mittelfeld zurück auf die rechte Seite in der Viererkette. „Ich habe immer gesagt: Wenn ich das Gefühl habe, andere Reize setzen zu müssen, mache ich das“, begründete Löw seine Entscheidung.
Doch der Bundestrainer hatte im 110. Länderspiel seiner Amtszeit, an dessen Ende der 75. Sieg in seiner persönlichen Bilanz steht, noch mehr in petto: In der Innenverteidigung musste Abwehrchef Per Mertesacker für den genesenen Hummels Platz machen, Sami Khedira rückte neben Bastian Schweinsteiger und Toni Kroos ins Mittelfeld und in der Sturmspitze kam Klose zu seinem Startelfdebüt in Brasilien.
In dieser neuen Formation startete die DFB-Auswahl vor 74 240 Zuschauern im legendären Maracanã schwungvoll in ihr 890. Länderspiel seit der Premiere im Jahr 1908. Und wie beim Auftakt-4:0 gegen Portugal war es Hummels, der die Löw-Truppe und Millionen Fans in der Heimat früh jubeln ließ. Nach einem Freistoß von Kroos behauptete sich der BVB-Verteidiger im Luftkampf gegen Raphael Varane und köpfte den Ball unhaltbar für Frankreichs Schlussmann Hugo Lloris unter die Latte. Es war das vierte Länderspieltor für Hummels - und das vierte per Kopf.
Mit der Führung im Rücken kontrollierte die DFB-Auswahl das Geschehen, obwohl die personellen Schachzüge von Löw nur bedingt aufgingen. Lahm machte die rechte Seite hinten dicht und entwickelte viel Drang nach vorn, wo Klose jedoch kaum zur Geltung kam.
In der sengenden Mittagshitze von Rio de Janeiro fielen zwei andere Akteure richtig ab. Mesut Özil war überhaupt nicht im Spiel und bot erneut eine enttäuschende Vorstellung. Und der erst kurz vor der WM von einem Kreuzbandriss genesene Khedira offenbarte einmal mehr Probleme mit Kraft und Antrittsschnelligkeit. Löw sieht das neue, alte Modell für die entscheidende WM-Phase daher auch nicht in Stein gemeißelt: „Das hängt vom Zustand der Spieler ab.“
Die Franzosen erholten sich nur langsam von dem frühen Tiefschlag und kamen erst gegen Ende von Halbzeit eins zu einigen gefährlichen Angriffen. Nachdem Benzema in der Anfangsphase per Direktabnahme knapp das Tor verfehlt hatte, dauerte es fast eine halbe Stunde bis zur nächsten Chance. Einen Schuss von Mathieu Valbuena parierte Neuer im Stile eines Klassemannes, den Nachschuss von Benzema blockte Hummels ab. Kurz vor dem Pausenpfiff musste Neuer in seinem 50. Länderspiel noch einmal gegen Benzema retten.
Nach dem Wechsel rissen die Franzosen das Spiel mehr an sich. Die DFB-Auswahl wurde in der Defensive wesentlich häufiger gefordert und entwickelte kaum noch eigene Angriffe. Löw reagierte und brachte nach 68 Minuten Joker André Schürrle für den ausgelaugten Klose. Der glück- und erfolglose Stürmer von Lazio Rom verpasste sein 16. Endrundentor und muss sich den Titel des besten WM-Schützen weiter mit dem Brasilianer Ronaldo teilen.
In der Schlussphase hätte Schürrle die Nerven beruhigen können, doch der England-Legionär vom FC Chelsea scheiterte zweimal aus aussichtsreicher Position. In der Nachspielzeit bewahrte Neuer mit einem unglaublichen Reflex bei einer weiteren Großchance von Benzema seine ausgelaugten Kollegen vor einer Verlängerung. Geschafft - Deutschland versinkt im WM-Rausch.