Kolumne Hummels verstößt gegen eine Grundregel im Kosmos Löw
Sie mögen es nicht glauben, aber sogar diese Niederlage des deutschen Teams gegen Mexiko hat etwas Gutes: Man kann sie sich nicht schönreden. Es war kein Pech, es gab keine Fehlentscheidung, es war kein Gegner von einem anderen Stern.
Nein, es war einfach eine besorgniserregende Leistung von einer Mannschaft, die sich allem verweigert hat, was der moderne Fußball heutzutage verlangt. Da hat nichts gestimmt: Es fehlte an Spritzigkeit und Schnelligkeit — im Kopf und in den Beinen. Es fehlte an Tempo, an Robustheit und an taktischer Disziplin. Ich war entsetzt. Und zwar als Freund der Nationalmannschaft und als Liebhaber des Fußballs.
Der Schock wirkt umso schwerer, weil wir ja alle zusammen glaubten, der vertraute Mechanismus würde funktionieren so wie bei den letzten Turnieren. Angeführt von dem gelassensten Bundestrainer aller Zeiten, war unsere Nationalmannschaft trotz personeller Problemche und nach mäßigen Testspieldarbietungen selbstbewusst in jede WM oder EM spaziert und hatte die Skeptiker belehrt: 2:0 gegen die Ukraine, 4:0 gegen Portugal, 1:0 gegen Portugal, 4:0 gegen Australien, 2:0 gegen Polen. Noch Fragen? Noch was zu meckern?
Es gibt für den Fehlstart sicher viele Gründe im Detail, aber ganz oben drüber steht: Weltmeister 2014. Es ist eine der ältesten Lehren, die das Leben parat hat: Wer noch mal auf einen Gipfel soll, den er schon mal bestiegen hat, der muss mindestens die Gier, die Leidenschaft und die Disziplin haben wie beim ersten Mal. Mindestens! Man sitzt schnell in einer Falle, aus der es fast kein Entkommen gibt. Du denkst: „Das können wir doch. Das schaffen wir — wie damals.“ Doch da ist nirgendwo ein Schalter, den du umlegen kannst. Plötzlich merkst du: Es läuft nicht mehr von selbst. Und dann bist du draußen in der Vorrunde — als Weltmeister. Fragt mal die Italiener nach 2010, die Franzosen nach 2002 oder die Spanier nach 2014. Und wir reden vom Höchstleistungssport.
Jede Faser, jeder Muskel, jede Synapse ist zu hundert Prozent gefordert. Sechs Spieler, die gegen Mexiko verloren, standen vor vier Jahren in der Mannschaft des WM-Finales, acht Spieler, die gegen Mexiko verloren, sind 2014 Weltmeister geworden — sie alle sind vier Jahre älter, haben vier Jahre mehr auf dem Buckel. Das macht es nicht nur dem Geist, sondern auch dem Körper schwer. Entsetzt war ich vor allem deshalb, weil nicht mal im Ansatz zu sehen war, dass unsere Mannschaft taktische Lösungen parat hatte. Es reicht, sich die Entstehung des Tores von Lozano anzuschauen, um zu wissen, welche taktischen Fehler dieses Spiel prägten.
Khedira macht, was er nicht kann: Er stößt vor und verliert den Ball im Zentrum. Hummels macht, was er nicht darf: Er kommt heraus und grätscht ins Leere. Özil muss machen, was er nicht gut kann: Verteidigen; er kommt nicht an Lozano heran. Wer eilt hinzu, um zu retten, was nicht mehr zu retten ist? Kroos, der andere Kreative. Kimmich? Ist noch auf dem Rückweg von einem seiner unkoordinierten Offensivvorstöße. Boateng? Ist im Zentrum so allein wie ein Tourist morgens um vier auf dem Roten Platz. Selten war ein Tor so typisch für das Spiel und die Leistung einer Mannschaft.
Wer bin ich, dass ich sagen könnte, wie es weitergehen soll? Ich glaube, der Bundestrainer fühlt sich wie der Vater, der auf das Katastrophenzeugnis des Kindes schaut: „Wenn es nur die Fünf in Mathe wäre — aber es hat ja in allen Hauptfächern nicht gereicht. . .“
Die nächsten Gegner machen es nicht leichter. Oder glaubt jemand, dass die Schweden so munter mitspielen werden wie die Mexikaner in der ersten Halbzeit? Das sind stoische Fußball-Spaßverderber. Und die Südkoreaner werden uns daran erinnern, dass Fußball ein Kampfsport ist. Auch darauf waren unsere Jungs gegen Mexiko nicht eingestellt. Es war manchmal unwürdig, wie sie nach halb zarten Zweikämpfen entrüstet zu Boden sanken und Freistoß reklamierten. Weltmeister stehen nicht unter Denkmalschutz, und ein Foul gegen einen der Helden von Rio ist keine Majestätsbeleidigung.
Sie haben lange Zeit, das alles aufzuarbeiten. Viel zu besprechen gibt es, das hat Hummels in seltener Klarheit kundgetan. Da gebe es Dinge, die er intern mehrfach angesprochen habe, die aber nicht umgesetzt worden seien. Für mich ist das ein Tabubruch, ein Verstoß gegen eine Grundregel im Kosmos Löw. Wie weit kommt man mit flachen Hierarchien, wenn plötzlich Führungsspieler gebraucht werden? Ich bin gespannt, was da noch kommt im Lauf der Woche.