Kramer auf Khediras Spuren - Gute WM-Chancen
St. Leonhard (dpa) - Es ist noch nicht alles Normalität für den Dauerläufer. Schnell schnappte sich Christoph Kramer die schwarze Trainingsjacke und trabte los - an der Seite von Stars wie Miroslav Klose, Mesut Özil oder Per Mertesacker.
Der 23 Jahre junge Fußballprofi gewöhnt sich aber langsam an die berühmten Kollegen und seinen neuen Arbeitsort. „Ich habe keine Angst, nur Respekt. Ich nehme es einfach mit und probiere, es zu genießen“, schilderte Kramer seine Maxime im WM-Trainingscamp im Passeiertal.
Leverkusen, Düsseldorf, wieder Leverkusen, Bochum, Mönchengladbach - und jetzt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Die Situation fühlt sich für den Auswahl-Frischling „schon irreal an, hier in Südtirol dabei zu sein und das alles miterleben zu dürfen“, gestand Kramer auf der Homepage seines Vereins: „Aber so langsam habe ich es realisiert und konzentriere mich jetzt einfach auf das, was hier passiert.“ Mehr als 13 Kilometer rannte Kramer pro Spiel in der abgelaufenen Bundesliga-Saison, mehr schaffte niemand.
Joachim Löw hat Kramer plötzlich zu einem der interessantesten Spieler im Land befördert. Ein Einsatz in der Not-Nationalmannschaft vor zwei Wochen in Hamburg gegen Polen (0:0) reichte dafür. Plötzlich war der in Solingen geborene Mittelfeldmann im erweiterten WM-Kader. Und nach nicht einmal einer Trainingswoche mit Deutschlands Fußball-Lieblingen Klose, Mario Götze und Lukas Podolski hat Kramer noch überraschender sogar „gute Chancen“, beim großen Fußballfest in Brasilien dabei zu sein, wie Löw erklärte.
Der Bundestrainer ist jedenfalls beeindruckt und beschrieb den Gladbacher als „unglaublich laufstark und hoch belastbar“. Kriterien, die in der Hitze von Nordbrasilien vom ersten Spiel an gegen Portugal ganz besonders zählen werden. „Er ist sehr gut im Defensivverhalten, zeigt in jeder Trainingseinheit und in den Spielen wahnsinnige Laufleistungen und ist sehr fit“, ergänzte Löw.
Natürlich weiß auch Kramer, dass sein Aufstieg in den Elitekreis des deutschen Fußballs mit seiner Position zu tun hat. Das defensive Mittelfeld ist Löws Notstandszone. Ilkay Gündogan konnte wegen anhaltenden Rückenleidens gar nicht nominiert werden. Lars Bender musste wegen einer schweren Oberschenkelverletzung aus dem Trainingscamp abreisen. Sami Khedira kämpft ein halbes Jahr nach seiner Kreuzband-Operation und einem verheißungsvollen Comeback um die hundertprozentige Fitness.
Und Bastian Schweinsteigers Probleme mit der Patellasehne stellen die WM-Tauglichkeit des 101-maligen Nationalspieler noch immer infrage, obwohl Löw wie in den Fällen Manuel Neuer und Philipp Lahm von einer rechtzeitigen Gesundung ausgeht.
„Ich versuche, überall auf dem Platz zu helfen, ob das in jeder Situation so sinnvoll ist, lasse ich mal dahingestellt. Ich kann über den Punkt, an dem es wehtut, rüberlaufen“, schilderte Kramer in Südtirol seine Vorzüge. Gemeinsam mit dem Münchner Toni Kroos bildete er im Übungsspiel gegen die U 20 des DFB die Doppelsechs. „Mein Eindruck von ihm ist absolut positiv“, betonte Löw. Am Spiel nach vorne, in die Spitze, müsse Kramer aber noch arbeiten.
Die Geschichte erinnert an 2010, als nach dem abrupten WM-Aus für Leitwolf Michael Ballack plötzlich ein junger Mann namens Khedira aus der zweiten Reihe in den Blickpunkt rückte. Der damals auch 23 Jahre alte Stuttgarter, gerade von einem Kreuzbandriss geheilt, spielte in Südafrika eine Super-WM - und durfte danach zu Real Madrid wechseln. „Ich will mir selbst auch keinen künstlichen Druck machen“, erklärte Kramer zu seinen WM-Perspektiven.
In seiner Wahlheimat kann Kramer am Sonntag im Länderspiel gegen Kamerun nochmals Punkte für das persönliche WM-Ticket sammeln. „Für mich ist das natürlich ein besonderes Spiel“, sagte der Dauerläufer: „Natürlich hoffe ich darauf, dass mir der Bundestrainer in meinem Wohnzimmer vielleicht ein paar Minuten Einsatzzeit schenken wird.“ Der Wunsch dürfte in Erfüllung gehen, höchstwahrscheinlich wird Kramer sogar in der Startelf stehen.