Löw voller Tatendrang: "Eine WM ist unglaublich motivierend"

Düsseldorf. Am 16. Juni bestreitet die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ihr Auftaktspiel der WM in Brasilien. Gegner in Salvador ist das Team aus Portugal. Im Interview spricht Bundestrainer Joachim Löw über seine Hoffnungen, Erwartungen und die aktuelle Situation der Mannschaft und seiner eigenen Person.

Bundestrainer Jogi Löw spürt die "große Sehnsucht" der Deutschen nach einem Titel.

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Herr Löw, wenige Wochen vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien erleben wir Sie sehr entspannt, gelöst. Nichts erinnert an den fast schon genervt wirkenden Bundestrainer aus dem Herbst. Woher rührt diese Ruhe - oder täuscht der Eindruck?

Joachim Löw: Nein, umso näher ein Turnier kommt, desto entspannter werde ich. Denn jetzt kehrt Normalität ein. Normalität in dem Sinne, dass alles geplant und vorbereitet ist und wir nun endlich konzeptionell arbeiten können. Bei Länderspielen in der Saison ist es ja so, dass ich zwar viele Gedanken im Kopf habe, aber nur wenig Zeit mit den Spielern. Oft ist das Spiel vorbei und ich merke: Es gab gar keine Gelegenheit, um mich richtig mit ihnen zu beschäftigen. Vieles bleibt an der Oberfläche. Diese Situation macht mich manchmal unzufrieden und führt zu einer Art von Hektik, die ich nicht mag.

Was heißt Normalität für Sie?

Löw: Wenn wir vor einem Turnier ins Trainingslager gehen, habe ich Zeit. Das führt zu einer Normalität, die vor allem aus wiederkehrenden Trainingseinheiten und Gesprächen besteht. Ich habe als temporäre Führungskraft, die ich als Bundestrainer für die Spieler nun mal bin, wieder mehr Zugang zu den Spielern. Natürlich telefoniere ich häufig. Doch wenn keine Länderspiele sind, liegt der Fokus der Spieler bei ihren Vereinen. Aber ab jetzt konzentriert sich alles auf die WM. Wir sind wieder eine Gruppe, werden eine Einheit bilden, meine Einschätzung über die Spieler wird schärfer, weil ich sie jeden Tag im Training beobachte. Das ist für mich Normalität, und darauf freue ich mich.

Sie lieben den Turniercharakter?

Löw: So ein Turnier ist tatsächlich noch immer etwas ganz Besonderes für mich. Eine EM oder WM ist spannungsgeladener als ein Qualifikationsspiel gegen Aserbaidschan oder Kasachstan. Ich freue mich auf Wettkämpfe gegen Argentinien, Spanien, England, Italien, diese Herausforderungen finde ich richtig gut, weil da die Spannung schon Tage vorher da ist. Das spornt mich an.

Sie sind also der Miroslav Klose der Trainerszene, ein Turniertrainer sozusagen?

Löw: Ich habe Turniere gerne, ja. Das hat mir immer Spaß gemacht. Natürlich bin ich auch da unter Anspannung und spüre hinterher auch, dass ich emotional in ein Loch falle. Aber es ist die spannendste Situation, die man als Nationaltrainer haben kann: Eine WM ist die größte Bühne der Sportwelt. Das finde ich unglaublich motivierend.

Sind Sie vielleicht auch so entspannt, weil Sie wissen: Das ist mein letztes Turnier als Bundestrainer?

Löw: Ach, das haben mir manche schon 2008 prophezeit. Ich bin nicht sicher, aber kaum ein Nationaltrainer aus dieser Zeit ist jetzt noch dabei. Spanien, Italien, Frankreich — überall gab es Wechsel seitdem. Natürlich muss man sich als Nationaltrainer darüber im Klaren sein, dass eine EM oder WM immer auch einen Einschnitt, ein Ende bedeuten kann. Dass hinterher ein Fazit gezogen wird. Dessen bin ich mir immer bewusst. Aber beide Seiten — der DFB mit Präsident Wolfgang Niersbach an der Spitze und wir von der sportlichen Leitung der Nationalmannschaft — haben uns ja ganz bewusst für eine Verlängerung des Vertrags entschieden. Das ist doch das klare Bekenntnis, dass wir alle von unserem gemeinsamen Weg überzeugt sind. Im Moment also gehe ich mal davon aus, bis 2016 weiterzuarbeiten. Aber ich bin auch Realist genug, um zu wissen: Wenn wir im Turnier versagen sollten, wenn wir in der Vorrunde ausscheiden sollten, dann wird es eine Situation geben, in der man neu diskutieren und sehen muss, wie es weitergeht.

Als Bundestrainer stehen Sie gerade vor und bei einer Weltmeisterschaft unter massiver öffentlicher Beobachtung. Viele Kräfte wirken auf Sie ein. Gab es bei Ihnen je eine Form von Überdruss?

Löw: Nein. Ich weiß, dass ich als Nationaltrainer im Fokus stehe und mir ist auch klar, dass es viele verschiedene Einflussversuche und Meinungen gibt. Aber mir macht es unverändert riesigen Spaß, mit der Mannschaft zu arbeiten und mich auf so ein Turnier vorzubereiten. Das steht über allem.

Aber wenn Millionen von Fußballfans nichts weniger als den WM-Titel von Ihnen fordern, diesen Druck müssen Sie doch spüren?

Löw: Mancher kann sich das vielleicht nicht vorstellen: Aber ich empfinde den Druck als gar nicht so belastend. Ich habe gelernt, diesen Druck auch mal ein bisschen wegzuatmen und mich zu entspannen. Bei einem Turnier herrscht dazu eine Ausnahmesituation. Da bist du so im Tunnel und voller Adrenalin, dass du den Druck ausblenden kannst. Ich denke nicht ständig daran, dass die ganze Nation erwartet, dass man das Spiel unbedingt gewinnen muss. Ich bereite mich vor und gehe mit voller Überzeugung und großes Vertrauen in meine Spieler ins Spiel. Und ja, ich weiß auch, dass es Enttäuschungen geben kann. Das hat das Italien-Spiel bei der EM 2012 gezeigt. Daran habe ich als Trainer zu nagen, das ist klar. Aber über solche Szenarien mache ich mir jetzt keine Gedanken und verspüre auch keine Angst deswegen.

Wie denken Sie heute über das Ausscheiden damals, das ja vor allem Ihnen angekreidet wurde?

Löw: Im Nachhinein sind viele schlauer. Auch ich. Wenn man das Spiel heute sieht, hätte ich etwas anderes tun können, ja. Aber auch diese Aufstellung damals habe ich aus Überzeugung gewählt. Sie kam zustande aufgrund meiner Trainingseindrücke. Dazu stehe ich. Mit dem heutigen Wissen würde ich vielleicht anders agieren.

Sie haben sich nach der Niederlage lange zurückgezogen.

Löw: Ich habe mich nach dem Spiel in mehreren Medienrunden gestellt. Aber wichtig für mich war, das Spiel einmal richtig aufzuarbeiten. Auch als Nationaltrainer kann ich nicht eine Stunde nach dem Spiel eine seriöse und tiefgehende Analyse machen. Ich kann ein paar erste allgemeine Eindrücke formulieren, aber keine tiefe, fundierte Bewertung. Dafür braucht es Zeit, und die habe ich mir genommen. Auch ich muss mich ständig hinterfragen. Was mich damals gestört hat, waren populistische Veröffentlichungen. Einen Tag vorher war alles toll, und plötzlich hieß es, die Spieler seien verwöhnt und haben verloren, weil sie die Nationalhymne nicht mitsingen.

Wie lange dauert es, bis Sie so eine Niederlage verarbeitet haben?

Löw: Bis man ein Turnier verarbeitet hat, dauert es Wochen, und das ist unabhängig von Erfolg oder Misserfolg. Da gibt es keinen Unterschied. Bei der WM 2010 war ich zwar nicht überglücklich, weil wir das Halbfinale verloren hatten, aber insgesamt doch sehr zufrieden mit dem Auftreten der Mannschaft. Wir haben durch unseren Fußball vieles nach Hause gesandt, was die Leute glücklich gemacht hat. Wir haben die Bilder ja gesehen, wie uns Millionen auf den Straßen nach den Siegen gegen Argentinien gegen England gefeiert haben. Das war ein tolles Gefühl. Aber auch damals hatte ich danach ein emotionales Tief.

Weshalb?

Löw: Weil die Gefühlschwankungen innerhalb eines Turnier so extrem sind. Du gewinnst gegen Argentinien, dann verlierst du gegen Spanien. Du bist du tief enttäuscht, musst dich wieder hochziehen und gewinnst dann gegen Uruguay das Spiel um Platz drei. Alles läuft wie im Film an dir vorbei, aber das trügt. Irgendwann kommen die Gefühle raus. Dann ist das Turnier aus und du bist plötzlich allein. Vorher hast du acht Wochen in einer Gruppe verbracht, hast dich auf Ziele eingeschworen, alles investiert, und dann fährst du nach Hause und spürst: alles fällt ab. Und du hast Fragen im Kopf: Wie geht es weiter? Wie findet man seine Motivation wieder? Wo liegen neue Herausforderungen? Das muss man alles auch zu- und an sich heranlassen.

Ist es schwer für Sie, Gefühle zuzulassen?

Löw: Ich musste das tatsächlich erst lernen. Bei den Turnieren 2006 oder 2010 habe ich mich fast dagegen gewehrt. Aber 2012 habe ich mir gesagt, ich muss Gefühlsregungen auch zulassen können — euphorische Freude genauso wie tiefe Enttäuschung.

Empfinden Sie die WM in Brasilien als Ihre ultimative Herausforderung?

Löw: Was die Umstände, die Logistik, die klimatischen Bedingungen betrifft, ja. Die sportliche Vorbereitung auf ein Turnier läuft ja meist ähnlich ab. Aber anders als etwa in Südafrika, der Schweiz oder Polen mussten wir nun verstärkt auf die angesprochenen Themen achten. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass ein ultimativer Druck auf mir lastet.

Was fehlt der Mannschaft noch zum ersehnten Titel?

Löw: Ich glaube, dass ich darüber schon ganz gute Kenntnisse habe. Ich weiß, wie wir spielen wollen und habe ein gutes Gespür dafür, was gut und was weniger gut läuft. Ich weiß, woran wir arbeiten müssen. Die Frage ist: Wie bekommen wir hin, dass es funktioniert? Bis manche Automatismen eingeschliffen sind, braucht es manchmal mehr Zeit als ich zur Verfügung habe. Anders als ein Vereinstrainer haben wir nur zwei, drei Wochen, um möglichst perfekt zu werden. Das ist nicht ganz so einfach. Vielleicht denke ich am Ende der Vorbereitung, wir hätten beispielsweise in Sachen Standardsituationen ein paar Einheiten mehr machen können. Aber natürlich glauben wir daran, dass wir es schaffen können.

Noch im März klang das nicht so optimistisch.

Löw: Ich wollte damals die Erwartungen weder dämpfen noch schüren. Ich habe für mich nur mal eine realistische Einschätzung gemacht: Wie viele Spieler sind in Topform? Wie viele sind aus dem Rhythmus? Wie viele sind verletzt? Wer hat keine gute Form? Im März kam ich zu dem Schluss: Im Moment sind wir nicht titelreif, weil acht formstarke Spieler nicht reichen, um Weltmeister zu werden. Dafür brauchst du schon 16, 17, 18 starke Spieler. Deswegen habe ich damals gesagt, dass wir auch Erwartungen an die Spieler haben. Heute sieht die Situation besser aus, aber es ist noch Luft nach oben.

Stört Sie die öffentliche Erwartungshaltung nach dem Motto: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Löw: Nein. Ich habe es mittlerweile akzeptiert, dass die Sehnsucht nach einem Titel in Deutschland groß ist, das verstehe ich absolut. Ich bin auch keiner, der auf jede Schlagzeile mit Argusaugen blickt, aber was mich tatsächlich einmal gestört hat, als ich vor dem Turnier 2012 die Überschrift gelesen habe: Jetzt oder nie! Da habe ich mir gedacht: Wir haben die jüngste Mannschaft von allen Teilnehmern. Wir haben Spieler wie Götze, Reus, Özil, Müller, Khedira, die ihre ganze Karriere noch vor sich haben. Wieso also sollte das ein Alles-Oder-Nichts-Jahr sein? Das ging völlig an der Realität vorbei. Andererseits haben wir durch unsere Leistungen in den vergangenen fünf, sechs Jahren die Ansprüche selbst nach oben geschraubt. Dass die Fans Sehnsucht nach einem Titel haben, ist normal.

Nun steht der Kader. Haben Sie das Gefühl, bei der Nominierung gut gearbeitet zu haben?

Löw: Wir sind der Überzeugung, dass der Kader eine gute Leistungsfähigkeit und Qualität hat. Jetzt geht es darum, die Spieler, die etwas angeschlagen waren, auf ein Topniveau zu hieven. Vielleicht können wir erst nach dem Turnier sagen, ob alles funktioniert hat, ob jeder Spieler seine ganze Klasse hat abrufen können. Aber im Moment bin ich der Überzeugung, dass wir aufgrund unserer Beobachtungen und Erkenntnisse eine gute Auswahl getroffen haben. Für uns ist sie logisch.

Waren Sie erleichtert, als Sie Mario Gomez die Nichtberücksichtigung mitgeteilt hatten?

Löw: Nein, das hat mit Erleichterung nichts zu tun. Dass solche Gespräche nicht einfach sind, das weiß ich, dafür war ich schon zu oft in vergleichbaren Situationen. Ich weiß, was der Gegenüber empfindet, ich weiß, dass er enttäuscht ist, richtig enttäuscht. Aber Entscheidungen müssen getroffen werden. Für Mario tut es mir persönlich weh, weil er für uns sehr viel geleistet hat. Wenn er in Topform ist, ist er ein klasse Spieler, der mir viel bedeutet. Aber um in Brasilien eine maximale Leistung abrufen zu können, ist die Fitness extrem wichtig.

Den Rekonvaleszenten Sami Khedira dagegen haben Sie berufen. Kritiker könnten Ihnen Inkonsequenz vorwerfen.

Löw: Ich rechne immer mit allem. Entscheidungen werden interpretiert, das kann ich nicht beeinflussen. Hätte ich Gomez nominiert, wäre der Vorwurf gekommen: ‚Warum? Der hat doch sieben Monate nicht gespielt.‘ Wenn wir am 2. Juni noch zwei, drei Spieler nach Hause schicken, werden auch noch mal alle möglichen Experten gefragt werden. Aber davon muss ich mich frei machen.

Nutzen Sie auch die sozialen Netzwerke für Ihre Kommunikation?

Löw: Ich bin weder einer, der twittert, noch nutze ich Facebook. Ich verschicke schon mal eine SMS, aber am liebsten suche ich das direkte Gespräch und nicht den Weg über Whatsapp oder andere digitale Plattformen.

Im vergangenen Jahr waren Sie beim Confed-Cup-Turnier in Brasilien und haben auch die massiven Proteste der Bevölkerung mitbekommen. Mit welchen Erwartungen reisen Sie zur WM?

Löw: Es ist mir wichtig, dass wir Deutschland mit unserer Art und Weise des Auftretens in Brasilien gut vertreten. Wir möchten als eine Einheit wahrgenommen werden, die ehrgeizig ist, einsatzfreudig, spielfreudig. Es ist mir aber auch wichtig, das Land und die Leute dort zu verstehen. Ich habe mich mit Brasilien intensiv beschäftigt. Ich habe Verständnis dafür, dass die Leute auf die Straße gehen. Sie demonstrieren für Grundbedürfnisse ihres Lebens, der Gesellschaft. Ein besseres Gesundheitswesen, ein besseres Bildungssystem, das ist ja die Zukunft eines Landes. Dass Väter und Mütter für ihre Kinder auf die Straße gehen, finde ich gut. Ich hoffe nur, dass die Proteste gewaltfrei bleiben und nicht etwa ein Schatten auf das Turnier fällt. Denn ich glaube auch, dass dieses Land bei der WM eine große Begeisterung entfachen wird. Brasilien wird für eine besondere, eine einmalige Stimmung stehen, die kaum zu toppen sein wird.

Beunruhigen Sie die Meldungen aus Salvador, wo jüngst 39 Todesopfer beklagt wurden?

Löw: Ja, daran kann man nicht vorbeisehen. Man muss die Proteste ernst nehmen. Aber ich bin überzeugt davon, dass wir in Brasilien sicher sind und wie Freunde empfangen werden. Auch wenn der Fußball die Probleme dort nicht lösen kann, wird er für Freude sorgen. Wir konzentrieren uns auf das Sportliche, werden aber nicht unsere Augen verschließen, was um uns herum geschieht. Insgesamt vertrauen wir den brasilianischen Behörden, die gemeinsam mit der FIFA ein Sicherheitskonzept erarbeitet haben.

Bei vergangenen Turnieren hatte die deutsche Mannschaft oft ein Team-Motto. Gibt es schon eines für Brasilien?

Löw: Im Moment nicht. Vielleicht muss man gar nicht unbedingt ein Motto vorgeben. Es muss sich ergeben, sonst wirkt es aufgesetzt. Es muss auf natürliche Art und Weise entstehen, durch Gespräche, durch Nähe, die man zueinander hat. Man muss ein Gefühl dafür entwickeln und dann vielleicht etwas lenken. Aber ich bin weggekommen davon zu sagen: ‚Das ist unser Motto, das hängen wir da oben hin und dem folgen wir‘.