Maracanã: Deutsche Titelsehnsucht im Fußball-Tempel
Rio de Janeiro (dpa) - Wenn Philipp Lahm, Miroslav Klose und Co. vor ihrem großen WM-Finale am Sonntag gegen Argentinien den Mythos Maracanã so richtig verstehen wollen, empfiehlt sich ein Gespräch mit Arthur Antunes Coimbra.
Im Alter von neun Jahren - so erinnerte er sich kürzlich - besuchte der später als Zico zu Weltruhm aufgestiegene Fußball-Star Brasiliens Heiligtum das erste Mal, noch nicht ahnend, dass er Jahrzehnte später Rekordtorschütze in der legendären Mammut-Schüssel im Westen der Zuckerhutmetropole sein sollte.
333 Tore hat Zico in dem Stadion erzielt, das für Millionen Brasilianer Inbegriff ihrer Fußball-Identität ist und für noch mehr Fans in aller Welt ein in Beton gegossenes Symbol für die einmalige Fußball-Kultur im Land des Rekordweltmeisters. Das Maracanã sah viele glänzende Erfolge und einzigartige Spieler-Karrieren. Der legendäre Pelé erzielte dort 1957 sein erstes Tor und 1969 seinen 1000. Treffer. Romário, Garrincha, Zagallo - das sind nur einige Namen von Welt-Stars, die in dem Stadion aufliefen.
Inmitten eines Wohngebietes im gleichnamigen Stadtteil entstand auf dem Gelände einer ehemaligen Galopprennbahn für die WM 1950 das Estádio do Maracanã. 200 000 Menschen bot es Platz - es war das größte seiner Zeit. Wie viele Zuschauer die erste große Niederlage in der Arena erlebten, ist bis heute nicht geklärt. Das traumatische 1:2 im letzten WM-Spiel 1950 gegen Uruguay hat aber sicherlich viel zur Legendenbildung beigetragen. Bis zum 1:7 am Dienstag gegen Deutschland war die Maracanaço genannte Demütigung die bitterste Niederlage in der brasilianischen Fußballgeschichte.
Fast jeder prominente brasilianische Fußballer verbindet seine Geschichte mit dem Stadion. Giovane Elber erinnerte sich im Interview des Magazins „11Freunde“ an eine Zweitages-Tour im Auto, um sein Idol Zico dort spielen zu sehen. Später spielte er selbst in der Arena. Faszination und Ehrfurcht ergriffen auch den ehemaligen Bundesliga-Profi. „Als ich das erste Mal auf den Rasen des Maracanã trat, hatte ich den Eindruck, die Tore wären zwei Kilometer weit voneinander entfernt“, sagte Elber.
Wie Zico, aber im Gegensatz zu vielen Brasilianern, findet auch Elber, dass der großangelegte Umbau zur WM 2014 der Arena nicht geschadet hat. Nur noch rund 74 000 Zuschauer passen in das Rund. Sitzreihen wurden angepasst. Doch eine einmalige Akustik macht die Spiele weiter zum Erlebnis. Von einigen Plätzen im Oberrang bietet sich ein großartiger Blick bis hinauf auf den Corcovado mit seiner legendären Christus-Statue. „Es ist wunderschön und auf jeden Fall einen Besuch wert. Die Aura bleibt ohnehin unverändert, ob es nun neu oder alt ist. Es ist das Maracanã, wie wir es kennen“, sagte Zico.
360 Millionen Euro verschlang die Sanierung. Viel zu viel bemängeln die WM-Gegner. Und mit dem riesigen Batzen Geld wurde auch die einmalige Atmosphäre geschluckt, sagen Kritiker. Bei der WM erwies sich das Maracanã in bislang sechs Partien als absolut endspielwürdig. Auch die deutsche Mannschaft hatte beim 1:0 im Viertelfinale gegen Frankreich schon ihr Rendezvous - und schaffte im Gegensatz zu vier erfolglosen Versuchen gegen Brasilien zwischen 1965 und 1982 auch den ersten Sieg.
Wer über die große Betonrampe das Stadioninnere erreicht, wird von einem erhabenen Gefühl ergriffen, das sich aus der Legende speist. Nur 14 Meter sitzen die Zuschauer in der ersten Reihe vom Rasen entfernt. Doch das Maracanã ist mehr als ein Stadion. Auch in den WM-Tagen ist es Ort für Freizeitsport und eine Art Naherholungsgebiet inmitten einer hektischen Stadt. Zu hunderten joggen die Carioca genannten Einwohner Rios jeden Tag um das Areal. Eine Ehrenrunde wollen Lahm, Klose und Co. am Sonntag aber sicher lieber in der Arena drehen.