Sorgencamp: Löw improvisiert - Großkreutz angezählt
St. Leonhard (dpa) - Nur kurz durfte Krisenmanager Joachim Löw ohne neue Ärgernisse die Schönheiten des Passeiertals genießen.
Nach einem ersten freien Nachmittag auch für die Sorgenkinder Manuel Neuer, Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger aber drängten für den Bundestrainer die vielen offenen WM-Fragen wieder in den Vordergrund. Löw muss wahrscheinlich während des gesamten Aufenthalts in Südtirol im Mannschaftstraining auf das verletzte Bayern-Trio verzichten. Zu allem Überfluss wurde er auch noch mit einer - für einen Fußball-Nationalspieler nur schwer entschuldbaren - Entgleisung von Kevin Großkreutz konfrontiert.
Von Panik will im Kreis der Nationalmannschaft in Südtirol aber noch niemand reden. „Wir werden in Brasilien elf Spieler auf dem Platz haben, die alles für den Bundesadler geben werden“, versprach Thomas Müller, Torschützenkönig der WM 2010, in St. Leonhard.
Die großen Entscheidungen im Hinblick auf eine titelreife Truppe muss Löw drei Wochen vor dem ersten WM-Spiel gegen Portugal aber weiterhin vor sich herschieben. „Das kann ich heute auch noch nicht beantworten“, erklärte er etwa auf die zentrale Frage, ob Kapitän Lahm im Mittelfeld oder in der Abwehr auflaufen werde. Erst einmal geht es darum, die Münchner Leistungs- und Hoffnungsträger überhaupt wieder spielfähig zu bekommen. „Wir werden nichts riskieren, da gilt es, ein bisschen Geduld zu bewahren“, erklärte Löw in der ARD.
Lahm, Neuer und Schweinsteiger fehlten am Sonntag im ersten Trainingsspiels gegen die U 20-Auswahl des DFB genauso wie Marcel Schmelzer und Per Mertesacker. Im öffentlichen Teil des Tests gelang dem Nationalteam vor 600 Zuschauern in zweimal 20 Minuten kein Tor. Der zweite Teil fand hinter verschlossenen Türen statt.
Das angeschlagene Bayern-Trio konnten beim Medientag im DFB-Quartier keine optimistische Prognose für einen Einstieg ins Teamtraining abgeben. „Einen konkreten Zeitplan gibt es nicht“, sagte Lahm und ergänzte: „Im Moment kann ich noch nicht laufen. Ich muss sehen, wie das Sprunggelenk auf Belastung reagiert.“
Im Hinblick auf Brasilien mache er sich aber „keine Sorgen“, sagte Lahm zur kritischen Gesamtsituation. „Die Leute, die angeschlagen sind, sind alles Spieler, die Biss haben“, begründete Neuer seinen WM-Optimismus. Der 28-Jährige trug immerhin keine Stützbinde mehr. „Im Moment bin ich den ganzen Tag in Behandlung“, berichtete die deutsche Nummer 1. Zumindest beim Heilungsverlauf seines rechten Armes sei er „voll im Zeitplan“.
Trotzdem muss sich Löw für sein viertes Turnier als Chef längst mit einem Plan B oder sogar C auseinandersetzen. Ob Großkreutz weiter eine Rolle spielt, wird sich am 2. Juni bei der Nominierung des endgültigen 23-köpfigen WM-Kaders zeigen. Der Bundestrainer hatte ein „ernstes Gespräch“ mit dem Dortmunder.
„Das war eine schwere Niederlage, man war sehr frustriert. Was danach passiert ist, tut mir sehr leid, ich entschuldige mich dafür auch. Es wird nicht mehr vorkommen“, erklärte Großkreutz zu den Vorkommnissen in der Nacht nach dem DFB-Pokalfinale.
Großkreutz soll nach dem 0:2 gegen den FC Bayern angetrunken in einem Berliner Hotel gepöbelt und sogar in der Lobby uriniert haben. „Nationalspieler sind in ganz besonderem Maße Vorbilder, auch neben dem Platz. Daran haben wir ihn erinnert und ihm klargemacht, dass so etwas nicht wieder vorkommen darf“, sagte Löw der „Sport-Bild“ und der „Bild am Sonntag“.
Einen Lichtblick erlebte die Sportliche Leitung beim gemeinsamen TV-Konsum des Champions-League-Endspiels. Sami Khedira stand beim Sieger Real Madrid in der Anfangself, spielte 60 Minuten und durfte kurz nach seinem Comeback mit dem Pokal jubeln. „Ich kann alle beruhigen, dass ich schon auf einem relativ guten Level bin, noch nicht auf hundert Prozent. Aber wir haben noch drei Wochen Zeit bis zum ersten Spiel. Ab Montag, Dienstag wird wieder voll angegriffen“, übermittelte der glückliche Khedira nach Südtirol.
Für Löw ist der 26 Jahre alte Mittelfeld-Organisator ein halbes Jahr nach einem Kreuzbandriss ein WM-Schlüssel. Er will Khedira in Brasilien unbedingt: „Er ist ein Spieler, der in der Mannschaft viel Gehör findet. Er steht für Wille, für Durchsetzungsfähigkeit.“
Eine Doppel-Sechs Khedira/Schweinsteiger wie bei der WM 2010 in Südafrika ist kaum noch vorstellbar. Vize-Kapitän Schweinsteiger gewährt kaum Einblicke, gestand jedoch: „Wenn man nicht trainieren kann mit der Mannschaft, nervt es!“ Löw kann sich nicht an frühere Verdienste klammern. „Da muss man letztlich sehen, wer ist am Anfang topfit, wer hat eine gute Form, wer kann bei einem Turnier mit sechs, sieben Spielen alles durchziehen“, sagte er. Das vorletzte Testländerspiel am kommenden Sonntag gegen Kamerum kommt für das Bayern-Trio zu früh. Marcel Schmelzer (Knieprellung) dagegen könnte in Mönchengladbach dabei sein.
Noch bemüht sich Löw um ein positives Bild der Vorbereitung. „Die Mannschaft macht im Moment einen sehr konzentrierten, aber auch frischen Eindruck. Da spürt man schon eine unglaubliche Dynamik.“ Auch Routinier Miroslav Klose (35) bleibt trotz vielversprechender Signale eine Unbekannte. „Im Training kämpft er verbissen, macht viel zusätzlich, macht Läufe, was ihm persönlich auch gut tut“, sagte der Bundestrainer zum 131-maligen Nationalspieler: „Wenn der Miro in Topform kommt, dann war der Miro bei uns vorne immer gesetzt.“