Heike Drechsler wird 50: „Ich kam mir vor wie Freiwild“

Karlsruhe (dpa) - Sie ist ein Kind der DDR, die erfolgreichste deutsche Leichtathletin der Nachwendezeit und eine Große des Weltsports. Nun blickt Heike Drechsler, die die Schatten auf ihrer Karriere einfach nicht vertreiben kann, auf fünf Jahrzehnte bewegtes Leben zurück.

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„Wahnsinn, was alles passiert ist!“, sagt die zweifache Weitsprung-Olympiasiegerin vor ihrem 50. Geburtstag am16. Dezember und atmet tief durch. „Es gab Momente, wo ich ganz schön durcheinandergewirbelt worden bin. Viele Lebensbrüche. Aber jeder einzelne hat mich geprägt, ich möchte sie nicht missen.“

Die Thüringerin stand wegen ihrer Doping-Vergangenheit oft in der Kritik, das macht ihr bis heute zu schaffen. „Es gab Zeiten nach der Wende, da kam ich mir vor wie Freiwild. Ich war die Gejagte, jeder hat auf mich geschossen“, sagt sie der Deutschen Presse-Agentur. Drechsler sitzt in einem Café in ihrem Wohnort Karlsruhe. Seit vielen Jahren schon ist sie in der Marketingabteilung der Krankenkasse Barmer GEK angestellt. Ihren 50. feiert sie in ihrem Geburtsort Gera. „Bei 100 Gästen wollte ich eigentlich Stopp sagen, jetzt werden es doch mehr. Da lassen wir es krachen!“

Etwas nachdenklich fügt Drechsler hinzu: „Ich hab' ein bisschen was zu erzählen.“ 1983 in Helsinki wurde Heike Daute, wie sie damals mit 18 noch hieß, mit einem Satz von 7,27 Metern erstmals Weltmeisterin. 1986 gewann die DDR-Sportlerin bei der EM in Stuttgart ihren ersten von vier Titeln in Serie. 1984 brachte sie der Boykott der Ost-Staaten um mögliches Olympia-Gold in Los Angeles, vier Jahre später in Seoul holte sie Silber im Weitsprung und Bronze über 100 und 200 Meter. Ihre Schnelligkeit, ihre großartige Koordination und Sprungkraft verhalfen ihr zu einer einmaligen Medaillensammlung.

Als die Mauer 1989 fiel, saß Drechsler zu Hause mit ihrem neugeborenen Sohn Tony. „Ich war damals 24, ich war froh, dass die Wende kam“, sagt sie heute. Die Laufbahnen und Sandgruben dieser Welt waren noch die gleichen, aber für Drechsler änderte sich - fast - alles. Das umsorgte Supertalent musste nun auf eigenen Beinen stehen und bekam plötzlich Gegenwind. „Für mich haben sich neue Chancen aufgetan. Aber man hat uns auch einen Stempel auf die Stirn gedrückt: Sport in der DDR - aha: Doping!“ Zudem wurde ihr vorgeworfen, für die Stasi gearbeitet zu haben. In Gesamtdeutschland so richtig angekommen fühlte sich Drechsler erst 1993: Damals wurde sie in Stuttgart bei ihrem zweiten WM-Triumph vom Publikum euphorisch gefeiert.

Die frühere Weltrekordlerin war vor allem über das Buch „Doping- Dokumente“ von Brigitte Berendonk gestolpert. Diese hatte mit Aufzeichnungen von Ärzten nachgewiesen, dass die junge Leichtathletin zu DDR-Zeiten unter anderem Oral-Turinabol erhielt. Die Diskussionen um die Enthüllungen schleppte die Weitspringerin wie Blei an den Spikes mit sich herum. Sie nimmt einen Schluck Tee: „Ich stehe zu meinem Leben, auch wenn ich mir mit den heutigen Kenntnissen vorwerfen muss, die damaligen Vorgänge zu wenig hinterfragt zu haben.“

Sie habe nie wissentlich und willentlich Dopingmittel genommen, sagt sie jetzt wieder. „Über Dokumente wurde bekanntermaßen aufgezeigt, dass in der DDR flächendeckend gedopt worden ist. Trotzdem hat jeder Athlet und Funktionär seine eigene individuelle Geschichte, und zudem widersprechen sich teilweise die Aufzeichnungen von Ärzten. Hätte ich die am Ende alle verklagen sollen?“

Zehn Jahre nach ihrem Karriereende hat Drechsler ihre Vergangenheit kürzlich wieder eingeholt. Ihre Aufnahme und die der ehemaligen DDR-Sprinterin Marita Koch-Meier in die Hall of Fame des Weltverbandes IAAF wurde unter anderem vom deutschen Verbandspräsidenten kritisiert. „Ich finde es ungerecht und bin vor allem von den Aussagen von Clemens Prokop enttäuscht“, meint sie. „Es sind keine neue Sachen, die jetzt erwähnt werden. Ich habe mich zum Thema Doping immer geäußert und gesagt: Die Doping-Praktiken der DDR verurteile ich aufs Schärfste.“

Prokop will nichts davon wissen, dass er Drechsler persönlich angegangen hat: „Ich habe mich zum Verfahren der IAAF geäußert, zu den Sportlerinnen aber überhaupt nicht.“ Sie sei zweimal Olympiasiegerin geworden und habe zehn Jahre lang Medaillen für die Bundesrepublik und den DLV geholt, betont Drechsler. „Dass meine gesamten Leistungen, auch nach 1989 nun pauschal und undifferenziert verunglimpft werden, ist sehr enttäuschend“, erklärt sie.

Auch zu Nachwende-Zeiten war sie von Erfolg zu Erfolg geeilt: 1992 in Barcelona feierte sie den ersten Olympiasieg. Und dann der Triumph 2000 in Sydney - mit 35 noch einmal Gold. Da sah man die ausgelassenste Heike Drechsler, die es je in der Öffentlichkeit gab: Überglücklich tanzte sie neben der Weitsprunggrube. Die Goldmedaillen von Barcelona und Sydney hat Drechsler heute noch oft dabei, wenn sie Schulklassen besucht oder Vorträge hält. Der Rest - Edelmetall, Pokale, Urkunden, Fotos, Filme und andere Erinnerungsstücke - liegen im Keller. In zehn Kisten.