IAAF-Funktionär Digel: „Wir haben einen Reformstau“
Zürich (dpa) - Die Europameisterschaften in Zürich haben einmal mehr die großen Probleme der Leichtathletik offenbart. Im Wettstreit mit anderen Sportarten um Fernsehpräsenz, Zuschauer und Sponsoren läuft sie immer weiter hinterher.
„Es gibt einen erheblichen Reformstau“, erklärte Helmut Digel, Mitglied im Council des Weltverbandes IAAF, der Nachrichtenagentur dpa. „Der muss angegangen werden - im Interesse der Athleten.“ Die überholte Wettkampf-Präsentation und langatmigen Programme mit viel Leerlauf führen schon seit Jahren zu sinkenden TV-Quoten und Besucherschwund.
„Das Letzigrund-Stadion ist wunderbar, Zürich ist eine fantastische Stadt“, sagte Digel. „Und dann kommst du hier her, und das Stadion ist nicht voll.“ Die Gründe dafür liegen für ihn auf der Hand. „Die Abendprogramme sind mit bis zu viereinhalb Stunden zu lang. Der Zeitplan stimmt nicht. Es gibt zu viele Pausen, und die Präsentation ist wenig spannend“, kritisierte der Marketingfachmann der IAAF.
Die sinkende Attraktivität der olympischen Königs-Sportart könne man nicht Organisatoren wie die der EM in Zürich anlasten, sondern vor allem dem europäischen und internationalen Verband. „Wir haben die Modernisierung nicht geschafft“, sagte der Spitzenfunktionär Digel selbstkritisch. „Es wurde über Reformen diskutiert, und Vorschläge liegen auf dem Tisch. Die Debatten laufen schon mehr als zehn Jahre, umgesetzt wurde so gut wie gar nichts.“ Der Anstoß zur Modernisierung müsse von der IAAF kommen, weil der Weltverband Hüter der Regeln ist.
So lange will der deutsche Verbandspräsident Clemens Prokop nicht warten. 2018 wird Berlin Austragungsort der EM sein. „Wir können einiges von Zürich für Berlin lernen und haben schon einige Ideen“, sagte er. „Das Programm muss Schlag auf Schlag umgesetzt werden - und das mit maximaler Information für die Zuschauer.“
Unter der Ägide von IAAF-Präsident Lamine Diack, der seit 1999 im Amt ist und 2015 abtritt, hat sich bei der Reform der Veranstaltungen wenig bewegt. Selbst der weltweiten Premiumserie „Diamond League“ mit 14 Meetings fehlt der Glanz. Einen Hauptsponsor gibt es zurzeit nicht. Kein Wunder, da zum Beispiel in Deutschland, einem der größten Leichtathletik-Märkte der Welt, keine TV-Bilder davon zu sehen sind.
„Die Liste der Verbesserungsvorschläge lag unendlich oft in Sitzungen auf dem Tisch. Entscheidungen sind nicht getroffen worden“, berichtete Digel. „Zwar wurde immer gesagt: Wir müssen! Doch wenn es zum Schwur kam, wurde es verhindert.“ Ideen gebe es genug, der Leichtathletik wieder neuen Pfiff zu geben.
So könnte man die Zehnkämpfer wie bei den Nordischen Kombinierern im abschließenden 1500-Meter-Lauf nach der Gundersen-Methode starten lassen: Nacheinander und in einem Abstand, der sich aus dem Punktestand ergibt. „Das wäre enorm spannend und keine Revolution“, meinte Digel. „Und warum lässt man über 10 000 Meter nicht nach jedem Kilometer den letzten Läufer ausscheiden?“ Damit würde man die Aufmerksamkeit der Zuschauer für das Rennen erhöhen.
„Wie kann ich dem Zuschauer gerecht werden, dass er die Spannung auch wahrnimmt?“, ist für ihn die Gretchenfrage. „Dafür muss ich das Kugelstoßen in die Mitte des Stadions legen und auf eine Bühne stellen.“ Auch den Stabhochsprung könne man in die Mitte rücken. „Wenn man diese Disziplinen in einer Stadionecke austrägt, sind drei Viertel der Zuschauer zu weit weg davon.“
Andere Sportarten wie Biathlon, Hockey, Schwimmen oder Volleyball hätten die Notwendigkeit der Modernisierung erkannt. „Offensichtlich besteht innerhalb von Organisationen wie die der IAAF ein strukturelles Problem“, meinte Digel. „Die Präsidenten haben eine starke Position, es gibt redundante Kommissionen und keine Mehrheitsentscheidungen.“ Auf dem nächsten IAAF-Kongress 2015 in Peking wird er nicht mehr für ein Amt im Spitzenverband kandidieren. Aus Resignation? „Ich habe Frustration, wenn man sieht, dass man Vorschläge macht und sie versickern.“