Professor: „Erinnerungslücke“ nach Koma normal
Kassel (dpa) - Der vor über drei Monaten schwer verunglückte Michael Schumacher „zeigt Momente des Bewusstseins und des Erwachens“. Das teilte die Managerin des Formel-1-Rekordweltmeisters, Sabine Kehm, in einer schriftlichen Stellungnahme mit.
Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa erklärt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurointensiv- und Notfallmedizin (DGNI), Andreas Ferbert, was Patienten wie Schumacher von ihrer Umwelt mitbekommen können.
Was bedeutet es, wenn Komapatienten Bewusstsein entwickeln? Was bekommen Sie dann von ihrer Umgebung mit?
Ferbert: Wer im Koma, also in der Bewusstlosigkeit ist, kann nicht bewusste Gedankeninhalte haben. Es gibt für die Zeit des Komas praktisch immer eine Erinnerungslücke. Ob es darüber hinaus Ansätze für Bewusstsein gibt, lässt sich schwer überprüfen. Das will ich nicht ganz ausschließen.
Kann Michael Schumacher womöglich mitbekommen, dass Menschen im Raum sind, dass er berührt wird?
Ferbert: Wir betrachten den Unterschied zwischen Koma und Wachbewusstsein dadurch, dass die Augen auf sind. Wer die Augen zu hat und auch durch Schüttelreize, durch lautes Ansprechen die Augen nicht aufmacht, ist bewusstlos. Und wenn jemand mit offenen Augen im Bett liegt, sprechen wir von Wachbewusstsein. Das heißt noch lange nicht, dass, wenn man die Augen auf hat, man alles versteht, was das Gegenüber sagt. Aber zumindest ist eine Wachheit da. Das ist die Voraussetzung für bewusstes Wahrnehmen.
Die Chance, dass Patienten wie Schumacher in einer solchen Phase etwas wahrnehmen, ist also da?
Ferbert: Das kann sein, ja. Es gibt den Begriff des Wachkomas, ich mag den Begriff zwar nicht, weil das irgendwie ein Widerspruch in sich ist, aber gemeint ist damit, dass Patienten zwar wach sind und die Augen offen haben, aber doch nicht bewusst wahrnehmen, dass andere Menschen mit ihnen sprechen und auch nicht reagieren und auch nicht antworten können.
Michael Schumacher ist seit Januar in der Aufwachphase. Seither sind etwa neun Wochen vergangen. Lässt dieser Zeitraum grundsätzlich Rückschlüsse zu auf seinen Zustand oder den von Patienten, die in einer ähnlichen Situation sind?
Ferbert:Ich muss betonen, dass ich nicht weiß, ob Herr Schumacher die Augen auf hat. Und ich weiß auch nicht, ob man mit ihm in Kontakt treten kann. Aber: Patienten, die so lange im Koma waren, die durchlaufen nicht selten das Stadium eines Apallischen Syndroms, das heißt sie können die Augen aufhaben und haben zunächst einmal eine zumindest extrem eingeschränkte Wahrnehmung ihrer Umgebung. Das ist also nicht so, dass man vom Koma in ein volles Wachbewusstsein von heute auf morgen übergeht.
Kann man in etwa voraussehen, wie lange eine Aufwachphase dauert? Oder ist das von Patient zu Patient unterschiedlich?
Ferbert: Das ist von Patient zu Patient unterschiedlich. Es kann auch sein, ich hoffe, dass das bei Herrn Schumacher nicht der Fall sein wird, dass Patienten, die, wenn sie drei Monate im Koma waren, die Augen aufmachen und dann in einem solchen Apallischen Syndrom verbleiben. Wo also die natürlichen Denkprozesse, die wir brauchen, um im täglichen Leben zu bestehen, nicht mehr zurückkommen. Das ist in jedem Einzelfall unterschiedlich.
Was bedeutet Apallisches Syndrom genau?
Ferbert: Wörtlich übersetzt heißt es eigentlich A-pallisch, Pallium ist der Mantel, also ohne Hirnmantel. Ohne die Hirnrinde. Dass sozusagen die Hirnstammfunktionen funktionieren, zum Beispiel das Schlucken, das Atmen, die Augenbewegung, von Rechts nach Links schauen, dass aber die sogenannten höheren Hirnfunktionen, Sprache, Wahrnehmung, auch Sprachverständnis, dass diese nicht vorhanden sind.
Was passiert im Körper während einer solchen Aufwachphase? Was macht der durch?
Ferbert: Das ist zunächst von den vegetativen Funktionen unabhängig. Es kann durchaus sein, dass ein solcher Mensch normale Darmfunktionen, normale Blasenfunktionen, normale Atem- und normale Herzfunktion hat. Das ist nicht abhängig vom Apallischen Syndrom. Es gibt Menschen im Apallischen Syndrom, wo alle Organfunktionen der inneren Organe normal sind.
Nach allem, was man bislang weiß: Wie würden sie aus der Ferne die Chancen einschätzen, dass Schumacher wieder gesund wird?
Ferbert: Die Frage kann ich nicht beantworten. Ich kann nur sagen, wenn er drei Monate komatös war, wird er wahrscheinlich nicht innerhalb von kurzer Zeit fit aufstehen und wieder am Leben teilnehmen können. Es wird sicherlich eine längere Phase der Rehabilitation brauchen, bis diese Funktionen zurück kommen. Ob sie zurückkommen, kann ich auch nicht bestätigen.
Zur Person:Prof. Dr. Andreas Ferbert ist Direktor der Klinik für Neurologie am Klinikum Kassel und zudem Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurointensiv- und Notfallmedizin (DGNI).