Vettels neues Feindbild: Nervende Reifen
Shanghai (dpa) - Sebastian Vettel hat ein neues Feindbild gefunden. Nach dem Hauskrach bei Red Bull richtet sich der Zorn des Formel-1-Weltmeisters nicht mehr gegen seinen vom Pech verfolgten Teamkollegen Mark Webber.
Auch der imponierende Ferrari-Auftritt von Dauerrivale Fernando Alonso beim Grand von China lässt den 25-Jährigen äußerlich kalt. Es sind die störrischen Reifen, die Vettel sauer machen und die Fahrt zum vierten Titel gefährden.
„Derzeit von Kräfteverhältnissen zu reden, ist ein Scherz, weil wir fast das ganze Rennen nur auf die Reifenhaltbarkeit auslegen müssen“, klagte der 25-Jährige nach seinem vierten Platz in Shanghai. Seine Sorge: Der Red Bull des WM-Führenden ist zwar stark, verschleißt die Reifen aber deutlich schneller als Alonsos Ferrari und der Lotus des Gesamtzweiten Kimi Räikkönen. Das lässt beim Rennen in Bahrain am Sonntag den nächsten Rückschlag befürchten.
Vettel ärgert - wie auch viele seiner Kollegen - die übermäßige Konzentration auf die Pneus. „Es macht schon Spaß“, sagte der Heppenheimer auf die Frage, ob ihm die PS-Jagd Freude bereite, wenn man viele Ressourcen in das Reifen-Roulette investieren muss. „Es ist einfach anders als früher in den Rennen, in welchen man von Anfang bis zum Schluss hat voll blasen können.“
Das Problem: Die Fahrer können nicht exakt abschätzen, wie intensiv sie Rad-an-Rad-Duelle bestreiten dürfen, ohne dass sie die Reifen zu stark abnutzen. „Man fährt ein bisschen im Dunkeln, was die Zweikämpfe angeht“, analysierte Vettel. „Die Fahrer in China benötigten weniger ein Renn-Gehirn als einen erweiterten Chemie-Abschluss“, urteilte der englische „Daily Telegraph“ mit Blick auf die komplexe Reifen-Wissenschaft.
Alonsos überlegener Sieg war deshalb kein Zufall. Die Scuderia ist dem Geheimnis der Pneus auf der Spur. „Ferrari zieht Vettel die Gummi-Hosen aus“, höhnte das Schweizer Boulevardblatt „Blick“. Und der österreichische Kurier warnte den Titelverteidiger: „Die rote Gefahr meldet sich zurück.“
Die WM-Situation ähnelt jener aus dem Vorjahr. Da gab es in den ersten sieben Rennen sieben verschiedene Sieger - nun sind es schon wieder drei. Neben Australien-Gewinner Räikkönen noch Vettel und Alonso, der in seinem 200. Grand Prix ein starkes Wochenende der Scuderia krönte. „Im Moment sehe ich Ferrari, Lotus, Red Bull und Mercedes etwa gleichauf“, sagte der Asturier. „Alles scheint eng beieinander, die Meisterschaft ist sehr offen.“
Ferrari will sich vom überzeugenden Sieg nicht blenden lassen. „Jetzt geht's weiter, mit den Füßen fest auf dem Boden“, forderte Scuderia-Boss Luca di Montezemolo. In der Heimat aber regierte schon wieder die Euphorie. Der „Corriere dello Sport“ verfiel ins „Alonso-Delirium“, die „Gazzetta dello Sport“ sah einen „roten Stern über China“ und meinte: „Der Titel ist keine Utopie“. Und in Spanien stellte „El Pais“ fest: „Alonso hat wieder einen Siegwagen.“
Als ganz großer Verlierer verließ dagegen Vettels verbitterter Teamkollege Webber den Shanghai International Circuit. Das Horror-Wochenende des Australiers mit Strafversetzung nach Tankpanne, verlorenem Reifen und Drei-Plätze-Degradierung für den Grand Prix von Bahrain beflügelte sogar Verschwörungsfantasien.
„Das ist kompletter Blödsinn“, konterte Teamchef Christian Horner die kühne These. „Vergessen Sie das Gerede von einer Verschwörung. Es geht nur darum, zwei Autos so weit vorn wie möglich ins Ziel zu bringen.“
Ob das schon in Bahrain wieder gelingt, erscheint angesichts der aktuellen Reifensorgen bei Red Bull zumindest fraglich. Erst nach dem vierten Saisonrennen könnte Pirelli dem Druck des Branchenführers und des Mercedes-Teams nachgeben und wieder widerstandsfähigere Pneus liefern. Die Anzeichen dafür verdichten sich.
In der Steinwüste von Sachir aber muss Vettel noch einmal mit dem klarkommen, was er hat. Abgeschrieben hat er eine Teilnahme an der Siegerehrung deshalb jedoch noch lange nicht. „In Bahrain gibt es auch sehr tolle Trophäen, mitunter die schönsten in der ganzen Saison“, meinte Vettel. Im Vorjahr holte er sich den größten Pokal.