„Wie ist der Puls?“ - Topfit wie ein Formel-1-Fahrer
Barcelona (dpa) - Sie sehen meist harmlos aus, fast schmächtig. Sie sind aber fit, topfit. Formel-1-Fahrer sind Allrounder. Sie lieben den Wettkampf und nicht wenige auch die körperliche Erschöpfung.
Bis es wehtut. So wie Nico Rosberg.
„Hey“, ruft Nico Rosberg und schaut verschmitzt nach hinten: „Wie ist der Puls?“ Es geht ein bisschen bergauf. „104“, ruft sein Personal Coach Daniel Schlösser. Ein Lächeln huscht über Rosbergs Gesicht. Seit Wochen verlässt sich der gebürtige Wiesbadener selbst auf seine innere Stimme. Ohne Pulsmesser wie sein Physiotherapeut, ohne Wattmesser - Training auf dem Rennrad unplugged. „Meistens so zwei oder zweieinhalb Stunden“, erzählt Rosberg, während der Weg von der Grand-Prix-Strecke in Barcelona wegführt. Er kennt die Route. Vom Vortag, vom Vorjahr.
Normalerweise trainiert der 27 Jahre alte Formel-1-Pilot des deutschen Mercedes-Teams meist in seiner Wahlheimat Monaco. Vorzugsweise einen zwölf Kilometer langen Anstieg hoch. Rosberg mag die knackigen Einheiten: „Beim Bergzeitfahren voll ans Limit gehen.“
Er ist nicht allein im Fahrerlager mit seiner Leidenschaft fürs Pedalieren auf den schmalen Reifen. Jenson Button, Weltmeister von 2009, reißt Kilometer um Kilometer auf seinem Velo ab. Hinzu kommen jede Menge Meilen für den Briten zu Fuß und im Wasser. Button ist - nebenberuflich - Triathlet. Im vergangenen Jahr qualifizierte sich der 33-Jährige mal eben so für die Weltmeisterschaft über die Halbironman-Distanz.
Oder Fernando Alonso, der Twitter-König unter den Formel-1-Piloten. Kaum eine Ausfahrt auf zwei Rädern, die er seinen Fans vorenthält. Gern auch mal in den Nationalfarben Spaniens. Sein Pensum: 9000 bis 12 000 Kilometer auf dem Rad im Jahr.
Rosberg, der wegen anhaltender Knieprobleme beim Laufen kürzertreten muss, kommt auf rund 5000 Kilometer. Radfahren ist aber auch nur ein Teil des ganzheitlichen Trainingsprogramms. „Man kann als Formel-1-Fahrer seine Sportart nicht sportartenspezifisch trainieren“, erklärt Rosberg-Coach Schlösser. Der Vorteil sei dabei, dass man vielfältiger trainieren könne als jeder andere Sportler.
Seit vier Jahren verbringen der Kölner und Rosberg mehr als 200 Tage im Jahr zusammen. Er ist Motivator, Aufpasser. Und immer auch Sparringspartner. „Wie ist der Puls jetzt?“, tönt es von der Spitze des Mini-Pelotons nach guten 20 Minuten auf dem Rad. Es ist Rosberg, die Frage gilt - wem sonst? - seinem kontrolliert hinterherfahrenden Physiotherapeuten, einem passionierten Ironman-Starter. „107“, ruft Schlösser. Rosberg weiß, sein eigener Puls ist kaum darüber, eher noch darunter.
Man sieht es ihm nicht unbedingt an, als er die Treppe von seinem imposanten Wohn-Truck heruntersteigt, der gleich neben dem Motorhome von Mercedes auf dem Circuit de Catalunya geparkt ist. Rosberg ist keine Kante: keine dicken Oberschenkel, keine ausgeprägten Waden, als er auf seinem neonfarbenen Rad in die Pedale tritt. Auch der Oberkörper nicht so auffallend muskulös wie der seines Trainers. Doch schon auf den ersten Metern wird klar: Was harmlos aussehen mag, hat es in sich.
Genau das ist auch die Krux der Formel-1-Piloten. Sie sind topfit, aber keine Muskelprotze, denn jedes Kilo zählt bei einem Mindestgewicht von 642 Kilo von Wagen und Pilot.
Beispiel Sebastian Vettel. Dreimaliger Weltmeister, der jüngste in der Formel-1-Geschichte. Und doch: Wenn der 25 Jahre alte Heppenheimer mit Bermuda-Shorts und T-Shirt durchs Fahrerlager schlendert, wirkt er immer noch ein bisschen wie ein aufgeweckter Abiturient, der einen Tag Formel-1-Schnuppern gewonnen hat. Es fällt schwer zu glauben, wie er mit traumwandlerischer Sicherheit die Fliehkräfte in seinem 750-PS-Boliden beherrscht und allen physischen Strapazen standhält, um in extremen Situationen auch noch einen klaren Kopf zu behalten.
Genau darauf kommt es aber an. Die physischen Voraussetzungen schaffen, um in den immer wieder auftretenden Grenzsituationen die richtigen Entscheidungen im Kopf zu treffen. „Seit den 90er Jahren sind die Anforderungen an Formel-1-Piloten immer weiter gestiegen“, erklärt der Chef der Sportklinik in Bad Nauheim, Dr. Johannes Peil. „Grundeigenschaften wie Kraft, Koordination, Schnelligkeit, Ausdauer, Reaktionsleistung werden in einem Umfang trainiert, wie er früher eigentlich nicht vorstellbar war“, betont der Arzt, der mit seinem Team deutsche und internationale Sportler betreut, allen voran seit Jahren den Ende vergangener Saison zurückgetretenen Formel-1-Rekordweltmeister Michael Schumacher.
Dessen Mercedes-Nachfolger Lewis Hamilton lieferte jüngst ein Beispiel dafür, wie Formel-1-Piloten ticken. Als die hinteren Bremsen bei über 200 Sachen an seinem Silberpfeil versagten, entschied er ganz bewusst, frontal durch den Kies in die Reifenstapel auf dem Circuito de Jerez zu krachen. Warum? „Wenn ich seitlich eingeschlagen wäre, hätte es den Wagen mehr in Mitleidenschaft gezogen.“
Sekunden, die nicht nur über Sieg und Niederlage entscheiden. Um in solchen Momenten hellwach zu sein, bedarf es jener Vorbereitung, die die Vettels und Alonsos und Rosbergs spätestens zu Jahresbeginn mit Hochtouren aufnehmen. Selbst hier offenbaren sich aber schon die ersten Herausforderungen. „Im Gegensatz zu manch anderen Sportarten besteht bei uns die Schwierigkeit auch in der Planung des Trainings“, betont Vettel. 19 oder 20 Rennen in einer Saison, dazu immer wieder mal andere Verpflichtungen, auf die Fahrer und Coach neu reagieren müssen.
Einzig in der rennfreien Zeit können die jeweiligen Zwei-Mann-AG's relativ ungestört planen. Wichtig dabei: spezifische Vorbereitungsprogramme, die die Stabilität der Wirbelsäule, aber auch selektives Training der Unterarme und Hände betreffen.
Bei Rosberg sieht der Umfang so aus: drei Tage Training mit der größten Intensität oder dem größten Umfang - manchmal auch beidem - zum Schluss. Dann ist ein Tag Ruhe. Ansonsten: je weniger Zeit, umso intensiver die Einheit. Je mehr Zeit, desto mehr wird an der Grundlagenausdauer gearbeitet. So bleibt der Puls auch am Berg im unteren Bereich.
Doch reicht dem gemeinen Formel-1-Piloten das meist nicht. Udo Bölts' legendärer Satz zu Jan Ullrich auf dem langen und auch leidensvollen Weg zu dessen Sieg bei der Tour de France 1997 lässt grüßen: „Quäl dich, du Sau.“ Er neige dann auch schon mal dazu, zu übertreiben, sagt Rosberg. „Weil es mir Spaß macht und ich ein guter Radfahrer sein möchte.“ Das schlechte Quälen, so der gebürtige Wiesbadener, sei allerdings das über längere Zeit. „Das ist dann richtig hart für den Körper. Das kurze ist nicht so ein Problem.“
Verrückt oder Mittel zum Zweck? „Es ist die Hölle“, sagt Rosberg, als er entspannt zurück Richtung Rennstrecke radelt und über das Formel-1-Rennen in Malaysia redet, auch als Sauna von Sepang berüchtigt. Luftfeuchtigkeit weit über 90 Prozent. Dazu brütende Hitze. „Man kann ja mal sein Rad in die Sauna stellen und dann 20 Minuten fahren“, meint Rosberg - ein Rat, freilich nicht zum Nachmachen geeignet. Allein die Vorstellung könnte aber manchen zum Schwitzen bringen. Vergleichbares, ob auf dem Rad oder wie auch immer kenne er nicht, sagt Rosberg über die Strapazen beim Rennen in Malaysia.
Am 24. März ist es dort wieder soweit. Eine Woche vorher startet die Formel-1-Weltmeisterschaft 2013 in Australien. „Man darf auch nicht vergessen, dass die Reiserei an einem zehrt“, betont Landsmann Vettel. Klar, Formel-1-Weltmeister reisen nicht in der Holzklasse. Doch der Körper wird nicht weniger gefordert.
Nach der langen Zeit im Flugzeug ist das Immunsystem geschwächt. Der geringere Druck in über 10 000 Metern Höhe und die trockenere Luft setzen dem Körper zu. In der Kabine herrscht ein Luftdruck wie auf einem 2000 oder 2500 Meter hohen Berg. Puls- und Atemfrequenz steigen, weniger Sauerstoff als gewöhnlich gelangt in den Organismus.
„Die Flüge sind ein ganz, ganz großes Problem. Das Immunsystem wird gefordert, das Biosystem angegriffen. Wer dann zu viel trainiert, wird direkt krank. Das als Fahrer so einzuschätzen und nicht wegen eines schlechten Gewissens trainieren zu wollen, ist manchmal nicht einfach“, betont Rosberg-Coach Schlösser. „Es bringt halt einfach nichts, direkt vom Flieger aufs Rad zu springen“, meint Vettel.
Hinzu kommen für die Piloten - genauso wie für die gesamten Crews - die ständig wechselnden Zeitzonen: Australien, Malaysia, Bahrain, dann Europa, ein Abstecher nach Kanada, zurück nach Europa, dann weiter nach Asien, Amerika und Südamerika. Dabei über Monate hinweg das physische Level zu halten, ist nicht einfach. Zumal darauf geachtet werden muss, dass die Physis in der Phase zu keinem Zeitpunkt überlastet wird, betont Sportklinik-Chef Peil. Und so hat auch Rosbergs Physio immer einen Blick auf seinen Schützling - und die Pulsuhr.