Bradley Wiggins kehrt der Straße den Rücken
Compiegne (dpa) - Es gibt sicher glamourösere Orte als Kulisse für das Ende eines ruhmreichen Kapitels. Die Champs Élysées in Paris etwa, auf denen Sir Bradley Wiggins 2012 die letzten Pedalumdrehungen zum historischen ersten britischen Tour-de-France-Sieg vollzog.
Ein geeigneter Ort wäre sicher auch London gewesen, wo die Großbritannien-Rundfahrt 2015 endet und wo der Brite 2012 sein Superjahr mit dem Olympiasieg im Zeitfahren krönte. Nein, Wiggins will all dies nicht. Der eigenwillige Mann vom Team Sky wird am 12. April auf der alten Betonpiste im Velodrome von Roubaix seine letzten Rennkilometer abspulen, bevor er sich wieder dem Bahnradsport widmet und seine Mission Olympia-Gold in Angriff nimmt.
Es sind die letzten 253 Kilometer, viele davon über das harte Kopfsteinpflaster auf staubigen Feldwegen aus den Zeiten Napoleons zwischen schier endlosen Rübenäckern. Wiggins hat den gefürchteten Frühjahrsklassiker Paris-Roubaix, auch die „Hölle des Nordens“ genannt, bewusst ausgewählt. „Das Rennen ist ein Kindheitstraum von mir“, sagte Wiggins. Zuvor hatte er alte VHS-Videokassetten und Radsport-Magazine mit früheren Aufzeichnungen des Rennens hervorgekramt.
Ein Sieg in Roubaix wäre für ihn mehr wert als der Toursieg 2012. „Sicher, die Tour war eine große Sache, aber hier ist nach sechs Stunden alles vorbei. Es ist der große Gegensatz. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass das Rennen mal von einem Dopingskandal überschattet worden ist. Es geht um nichts anderes als um Radsport.“
Wiggins beschreibt, wie er in solchen Rennen die Liebe zum Radsport neu entdeckt hat. Die hatte er 2012 verloren, als ihm der Rummel um seine Person und die immer wiederkehrenden Fragen zum leidigen Doping-Thema zu viel geworden waren. „Ich habe es gehasst, Toursieger gewesen zu sein. Ich habe die Medien dafür gehasst, dass sie mir immer wieder Fragen zu Lance Armstrong gestellt haben. Ich habe Armstrong gehasst, dass er Oprah Winfrey dieses Interview gegeben hat. Und ich habe es gehasst, der Toursieger in einer Periode gewesen zu sein, der all diese Fragen beantworten musste.“ Er habe sich im Nachhinein oft gefragt, wie er es nur geschafft habe, die Frankreich-Rundfahrt unter diesem großen Druck zu gewinnen.
Der Triumph 2012 war der Startschuss eines regelrechten Radsport-Booms auf der Insel mit dem Höhepunkt der Sommerspiele in London. Seine Landsleute hatten sich ihm zu Ehren Koteletten angeklebt, bei der Eröffnungsfeier durfte er mit einem Glockenschlag die 30. Sommerspiele einläuten, und später wurde er von der Queen zum Ritter geschlagen. „Ich war, hier, dort, einfach überall. Ich hatte vergessen, was ich mal geliebt habe“, erzählt Wiggins, für den der verletzungsbedingte Verzicht auf die Tour 2013 rückblickend wie eine Erlösung war. „Ich war die Affen auf meinem Rücken los und ein anderer musste sie tragen“, sagt Wiggins. Der andere war sein Landsmann Christopher Froome.
Als sich der Rummel verzogen hatte, blühte Wiggins wieder auf. An der Tour nahm er nicht mehr teil. Er gewann kleinere Rundfahrten, fuhr die Klassiker und zeigte alte Zeitfahrqualitäten. 2014 schnappte er Tony Martin den WM-Titel weg. Ein Rennen „wie Ali gegen Foreman“ sei es gewesen, sagt der 34-Jährige, der sich nun explizit auf Paris-Roubaix vorbereitet hat. Wiggins kennt die 27 Kopfsteinpflaster-Passagen auswendig. Er weiß, welche Wattzahlen er treten muss und wo die größten Gefahren lauern. Im letzten Jahr wurde er Neunter, diesmal soll es für ganz vorne reichen. Als Belohnung wartet ein Pflasterstein.
Im nächsten Jahr soll es dann wieder Edelmetall sein, wenn Wiggins in Rio auf der Bahn starten will. Mit viermal Gold, einmal Silber und zweimal Bronze gehört er schon zu den erfolgreichsten britischen Olympioniken. „Ich möchte nicht in den nächsten Jahren vergessen werden und als geschlagener Ex-Toursieger durchs Leben gehen“, sagt Wiggins. Die Gefahr ist auch so relativ gering.