Kolumbianer Quintana erobert und verblüfft Europa
Trieste (dpa) - Nairo Quintana erstaunt die Radsportwelt immer wieder. „Ich bin hier noch immer nicht bei 100 Prozent Leistung“, sagte er nach der Bergetappe zum Zoncolan, als er auf der vorletzten Etappe spielend leicht seine souveräne Führung beim 97. Giro d'Italia verteidigte.
Der Kolumbianer verwies auf Atembeschwerden, die ihm eine Erkältung bis in die letzten Tage des Giro bereitete. Tatsächlich hatte der 24 Jahre alte Senkrechtstarter, der die große Bühne im Vorjahr mit einem sensationellen zweiten Platz bei der Tour de France betreten hatte, manche Pressekonferenz mehr mit Husten als mit Reden verbracht.
All diese Beschwerden konnten den Sohn eines Obstverkäufers aus der 2800 Meter hoch gelegenen Andenstadt Tunja aber nicht davon abhalten, die anspruchsvollste Bergetappe dieser Italien-Rundfahrt am vergangenen Dienstag und auch das Bergzeitfahren zum Monte Grappa am Freitag zu gewinnen. Dabei machte Quintana oft noch den Eindruck, als würde er mit seinen Gegnern spielen. „Ich versuche, bei den Etappen gut zu sein, aber niemals die letzten Reserven anzugreifen“, sagte er.
Genau diesen Eindruck hinterließ der zierliche Südamerikaner, der bei seinem Zeitfahrsieg Besuch von seinen stolzen Eltern erhalten hatte. Was er zu leisten vermag, wenn er tatsächlich zu 100 Prozent fit ist, scheint er gegenwärtig selbst nicht zu wissen. Unterschwellige Doping-Verdächtigungen konterte er: „Ich bin auch nur ein Mensch. Ich habe meine Grenzen und kenne Erschöpfung.“ Wo diese Grenzen liegen, ist eine spannende Frage für die Zukunft.
Eusebio Unzue, sein Chef im Valverde-Rennstall Movistar und in den 90er Jahren auch der Mann hinter dem Aufstieg des fünffachen Toursiegers Miguel Indurain, hält ihn für fähig zum Toursieg. „Wir werden daran arbeiten. Er hat das Zeug dazu“, sagte Unzue der Nachrichtenagentur dpa. Quintana bringe neben seinen körperlichen Voraussetzungen auch die mentalen mit. „Er ist trotz seiner Jugend schon jetzt ein Leader“, meinte Unzue.
Mit Quintana erlebt der Radsport im Moment zugleich ein soziales Märchen: Von einem Burschen, der in Armut aufwuchs und dem nun die Radsport-Welt zu Füßen liegt. Das erste Rad Quintanas war ein klobiges 30 Dollar-Straßenrad, mit dem er täglich 32 Kilometer Schulweg zurücklegte. Das Haus seiner Eltern lag auf dem Gipfel eines 8 Prozent steilen Anstiegs. Diesen Berg wird er möglicherweise im Juli wieder bewältigen, dann aber mit besserem Material. Wenn sich Contador und Froome bei der Tour duellieren, wird er zu Hause entspannen. 2015 soll er nach Frankreich zurückkehren - als potenzieller Sieganwärter.
Die Zeitung „El Tiempo“ aus Bogotá schrieb angesichts des bevorstehenden ersten Sieges eines Kolumbianers in 105 Jahren Giro-Geschichte von einem „Jahrhundertereignis“. Quintana auf Rang eins und sein Landsmann Rigoberto Uran dahinter hätten der diesjährigen Italien-Rundfahrt die besondere Note verliehen.
„Sie haben das Protokoll des Rennens gebrochen, sie haben ihr Spiel gemacht. Auf der Strecke blieben Italiener, Franzosen, Australier und Spanier, die mit unseren Nationalhelden nicht mithalten konnten“, schrieb das Blatt.