Martin zittert sich zu zweitem Toursieg in vier Jahren

Mont Saint-Michel (dpa) - Mit versteinerter Miene schaute Tony Martin auf den Fernseher im Zielbereich, ehe er schließlich nach quälenden vier Stunden doch erleichtert aufsprang.

Erst als der lange nach ihm gestartete Spitzenreiter Christopher Froome die Bestzeit des Weltmeisters knapp verfehlt hatte, stand der Sieg im ersten Einzelzeitfahren der 100. Tour de France fest. „Das war kein Zittern mehr, das war fast schon Enttäuschung. Ich dachte, er schlägt mich um ein, zwei Sekunden. Das wäre mein Super-Gau gewesen“, sagte Martin nach seinem persönlichen Happy End.

Zwölf Sekunden lag der zweimalige Weltmeister am Ende des Zeitfahrens über 33 Kilometer zwischen Avranches und Mont Saint-Michel vor Froome, der bei den ersten beiden Zwischenzeiten noch vor Martin gelegen hatte, dann aber auf den letzten leicht abschüssigen 15 Kilometern noch die entscheidenden Sekunden verlor.

So durfte sich Martin im Zielbereich doch von seiner Entourage umarmen lassen. „Dieser Sieg war für mich und das Team sehr wichtig. Nach der ersten schweren Woche war das einer meiner schönsten Erfolge. Aber am Schluss war es einer der schlimmsten Krimis, die ich je miterlebt habe“, ergänzte Martin nach seinem zweiten Etappenerfolg in vier Tour-Jahren und strahlte über sein ganzes Gesicht. Den Siegerblumenstrauß reichte er an seine Mutter weiter.

Der 28-Jährige, der ein Mittel von 54,271 Stundenkilometern erzielte, hatte das Erfolgserlebnis vom Mittwoch als Trostpflaster dringend nötig. Zum Auftakt der Jubiläums-Tour war er in Bastia böse gestürzt. Er zog sich eine Lungenprellung, zahlreiche Abschürfungen und eine tiefe Fleischwunde am Ellenbogen zu, die die Tour-Fortsetzung zur großen Qual gemacht hatten. Aber als Ziel zum Durchhalten diente das Zeitfahren nach Saint-Michel. Auf dem Weg dorthin hatten Martin und sein Team noch die knappe Niederlage im Mannschafszeitfahren von Nizza zu verarbeiten gehabt.

Der von hunderttausenden Fans gesäumte Parcours war dem 28-jährigen auf den Leib geschneidert, ao konnte Martin seine „einzige hundertprozentige Chance auf ein Tour-Highlight“ beim Schopf packen. Seine quasi am ganzen Körper sichtbaren Sturzverletzungen behinderten ihn auf der elften Etappe nur noch wenig. „Das ist abgehakt - heute hat für mich die Tour zum zweiten Mal begonnen“, erklärte Martin, der die „deutschen Tage“ der Tour nach den Etappensiegen von Marcel Kittel (2) und André Greipel (1) fortsetzte. Vier deutsche Etappensiege bei der Tour hatte es zuletzt 2001 (Erik Zabel/3, Jens Voigt/1) gegeben.

Der Topfavorit, der in dieser Saison noch kein Zeitfahren verlor, musste schon um 12.36 Uhr auf die Strecke. Froome, den Martin auf dem Kurs über drei kleine Steigungen von vornherein zum Hauptkonkurrenten im Kampf um den Tagessieg bezeichnet hatte, war als letzter Fahrer um 16.54 Uhr gestartet und hatte die Zeit von Martin als Referenz immer vor Augen. Nach 22 Kilometern hatte er noch mit zwei Sekunden vor Martin gelegen, dann büßte er aber an Boden ein.

Aber auch der Brite, der in den Pyrenäen nicht zu schlagen war, fand bei starkem Wind kein Mittel gegen den Wahl-Schweizer. Für Froome war aber wichtiger, seinen Vorsprung im Gesamtklassement auszubauen. Das gelang ihm. Er nahm dem zweifachen Toursieger Alberto Contador 2:03 Minuten und dem nach wie vor im Gesamtklassement zweitplatzierten Alejandro Valverde genau zwei Minuten ab. Der Sky-Kapitän geht jetzt mit 3:25 Minuten Vorsprung zu Valverde auf die zwölfte Etappe über 218 km von Fougères nach Tours, die am Donnerstag wieder ein gefundenes Fressen für die Sprinter sein dürfte. „Die Tour ist noch nicht zu Ende“, gab Contador zu Protokoll. Ob der Spanier wirklich noch an eine Chance glaubt, bleibt sein Geheimnis.

Kittel und Greipel stehen nun bereit, um die Erfolgsgeschichte aus deutscher Sicht bei dieser ganz besonderen Tour weiterzuschreiben. Die Geschlagenen von Saint Malo, Mark Cavendish und Greipel, werden mit Wut im Bauch an den Start gehen. Besonders der britische Ex-Weltmeister, der beim Zeitfahren Opfer eines sehr unappetitlichen Zwischenfalls geworden war. Ein Zuschauer hatte ihn mit Urin bespritzt. „Das hat im Sport nicht zu suchen“, sagte Martin zu dem Vorfall.