Tour 2011: Schinderei unter Damokles-Schwert
Berlin (dpa) - Ein Super-Favorit, eine Handvoll Herausforderer, ein Dutzend Deutsche, 30 Millionen Schaulustige - und über allem ein Dopingverfahren, das 3430 Kilometer Schinderei durch Frankreich im Nachhinein ad absurdum führen könnte.
Auch bei ihrer 98. Auflage ist die Tour de France wieder ein Gemisch aus sportlicher Höchstleistung, pompösem Spektakel und ständiger Angst vor Manipulationen. Mit dem Startschuss auf der idyllischen Atlantikinsel Noirmoutier beginnt am Samstag vor allem die Jagd auf Alberto Contador, den überragenden Tour-Fahrer der vergangen Jahre - und einen der umstrittensten.
Der Start des Spaniers beim wichtigsten Radrennen der Welt steht unter keinem guten Stern. Wegen eines positiven Dopingbefunds bei der Tour 2010 ist beim Internationalen Sportgerichtshof CAS ein Verfahren anhängig. Die offene Causa bereitet den Organisatoren sowie manchem Fahrer Kopfzerbrechen - doch nach der Verschiebung des Prozesses auf Anfang August sind den Kritikern die Hände gebunden. Sollten die Richter den Madrilenen nach der finalen Tour-Etappe in Paris schuldig sprechen, verlöre dieser alle seine Titel ab Juli 2010 - auch den möglichen vierten Triumph bei der diesjährigen „Grande Boucle“.
Bei seinem ersten Auftritt bekam Contador am Donnerstag bereits einen Vorgeschmack auf die drei Tour-Wochen, als er kaum sportliche, dafür aber viele Doping-Fragen zu beantworten hatte. „Ich habe das ganze Jahr mit diesen Diskussionen zu tun, aber ich werde mich auf das Rennen konzentrieren und mich nicht durch diesen Druck von außen aus der Ruhe bringen lassen“, kündigte er an. Zu einer möglichen CAS- Verurteilung sagte der Spanier: „Wenn sie mir den Sieg abnehmen, wäre das komplett lächerlich. Ich bin der am meisten getestete Fahrer und habe trotzdem fast jedes Rennen gewonnen.“
Doch auch die Fans zweifeln an Contador. Bei der Präsentation der 22 Mannschaften im Vergnügungspark Le Puy du Fou wurde er von den rund 3000 Zuschauern gnadenlos ausgepfiffen. Contador war sichtlich entsetzt und verweigerte anschließend jeden Kommentar.
Dass er am 24. Juli abermals das Gelbe Trikot nach Paris tragen wird, darüber sind sich viele Experten einig. „Er gewinnt wieder“, prognostizierte die deutsche Tour-Hoffnung Tony Martin von HTC- Highroad. Als „Dream Team“ zusammen mit seinem Saxo-Bank-Teamchef und genialen Strategen Bjarne Riis ist Contador ohnehin kaum zu schlagen. Schon beim knüppelharten Giro d'Italia mit barbarischen Anstiegen fuhr der Kletterspezialist die Konkurrenz im Mai in Grund und Boden.
Erster Herausforderer ist Andy Schleck, mit Bruder und Leopard- Trek-Kamerad Frank die andere „Doppelspitze“ im Peloton - bislang aber die wesentlich erfolglosere. Bei den Frühjahrsklassikern verpasste die „Real Madrid des Radsports“ getaufte Equipe die große Bestätigung. Leopard-Teammanager Kim Andersen verkündet aber unbeirrt: „Natürlich fahren wir zur Tour, um zu gewinnen.“
Nur Außenseiterchancen haben der zweimalige australische Tour- Zweite Cadel Evans vom Team BMC, Liquigas-Profi Ivan Basso aus Italien und der Brite Bradley Wiggins vom Rennstall Sky. Dass die Tour in den Bergen entschieden wird, betonte der Vorjahreszweite Andy Schleck: „Man muss in den letzten zwei Wochen topfit sein.“ 2010 hatte der Luxemburger in den Pyrenäen die Tour an Contador verloren.
Bei den Generalproben - den nationalen Meisterschaften - verpassten sowohl Schleck als auch Contador den Titel, beide wurden Zweite. Vielleicht ein gutes Omen für den Deutschen Martin, der im dritten Anlauf im Klassement weit nach vorne fahren will und seinen ersten Tageserfolg anvisiert. Auch der 26-Jährige holte bei der deutschen Meisterschaft im Zeitfahren nur Silber - seine Stunde soll im Kampf gegen die Uhr auf der vorletzten Etappe in Grenoble schlagen.
Elf weitere deutsche Fahrer sind in Frankreich dabei, ein Team „Made in Germany“ ist erstmals seit 1992 nicht am Start. Zu viele Dopingskandale haben Sponsoren hierzulande vergrault. Deswegen fahren die Deutschen - als aussichtsreichste Kandidaten neben Martin vor allem Radioshack-Kapitän Andreas Klöden und Sprint-Hoffnung André Greipel vom Team Omega Pharma-Lotto - nicht nur für sich und ihre Teams, sondern auch für das Renommee ihrer Sportart in Deutschland.
Derartige Probleme haben die Franzosen, die die Tour wie üblich als dreiwöchiges Dauerspektakel inklusive Volksfesten in den Etappenorten inszenieren, freilich nicht. Rund 30 Millionen Fans sind den Organisatoren an der Strecke sicher. In 190 Länder werden die TV-Bilder von den Sprints in der Bretagne, den Kletterpartien in Pyrenäen und Alpen, vom 100-jährigen Jubiläum der Überquerung des Col du Galibier und von der Schinderei hinauf nach Alpe d'Huez geschickt.
Ganz ausblenden kann die Tour das Thema Doping nicht - unabhängig von der Contador-Hängepartie. Lagen in den vergangen Jahren vor allem der Weltverband UCI und Frankreichs Anti-Doping-Agentur AFLD unter dem ehemaligen Präsident Pierre Bordry noch im Clinch, so werden die Organisationen nun gemeinsam testen. Veranstalter, Teams, Fahrer und Fans hoffen auf negative Proben - vor allem, weil schon ein positiver Fall drei Wochen lang wie ein Damokles-Schwert über der Tour hängt.