Urin-Attacke als Tiefpunkt der Froome-Anfeindungen
Mende (dpa) - Auch der Applaus am Start der 15. Etappe in Mende linderte kaum die Wunden von Christopher Froome. Unbewiesene Dopinganschuldigungen, Beschimpfungen und sogar eine Attacke mit Urin: Dem Mann in Gelb schlägt auf dem Weg zum zweiten Sieg bei der Tour de France Hass entgegen.
Die Hypothek der Vergangenheit wiegt offensichtlich so schwer - da kann der federleichte Brite sich noch so sehr die Seele aus dem Leib strampeln. Er wird die Zweifler nicht los. Zum Eklat kam es am Samstag, als ein offensichtlich selbst ernannter Rächer Froome rund 55 Kilometer vor dem Ziel mit Urin überschüttete.
Das Opfer des Spießrutenlaufes nannte zwar nicht die Namen derjenigen, die seiner Meinung nach Schuld an der vergifteten Atmosphäre sind. Froomes Frau Michelle wurde da schon konkreter, als sie in einem Tweet die früheren Profis und jetzigen TV-Experten Laurent Jalabert, Cedric Vasseur, das Tour-Zentralorgan „L'Équipe“ und den früheren Festina-Trainer Antoine Vayer als „ignorante, unverantwortliche Dummköpfe“ anklagte.
Der 30 Jahre alte Brite - sobald er absteigt die Zurückhaltung und Höflichkeit in Person - nahm kein Blatt vor den Mund: „Ich denke die Berichterstattung über das Rennen ist mitunter unverantwortlich und ich gebe ihnen die Schuld dafür. Wen ich meine, wissen diese Leute selbst. Es sind nicht mehr die Sportler, die respektlos gegenüber dem Radsport sind, es sind diese Leute“. Die trügen auch die Mitschuld an der plötzlich - für den Radsport eher unüblichen - Aggressivität.
Froome rang um Fassung, als er von den unappetitlichen Vorfällen auf dem Weg nach Mende berichtete: „Ein Zuschauer hat mir einen kleinen Becher Urin ins Gesicht geschüttet und 'Doper' gerufen. Ich bin extrem enttäuscht. Ich möchte herausheben, dass es nur eine Minderheit von Leuten da draußen ist, die negativ gegen uns sind.“ Sein Team-Kollege Richie Porte berichtete von Faustschlägen, die er zuvor in den Pyrenäen unterwegs wie einst Eddy Merckx einstecken musste. „Wir fahren jeden Tag durch eine Art Fußball-Mob“, erregte sich Froome-Chef Sir Dave Brailsford. Volle Cola-Dosen sollen schon gegen das Sky-Auto geflogen sein.
„Wo soll das eines Tages hinführen? Ist es bald so wie im Fußball, wo Leute über den Zaun springen und Waffen in der Hand haben?“, fragte Sportdirektor Nicolas Portal. Am Sonntag wurde das Team unter Polizeischutz gestellt. Sechs Beamte bewachten den Bus vor dem Start. Nach der Etappenankunft mit dem Sprint-Sieg des Rostockers André Greipel berichtete Froome: „Die Atmosphäre war heute fantastisch. Ich will betonen, dass es sich bei den Anfeindungen nur um eine kleine Anzahl handelte.“
Tourchef Christian Prudhomme rief die Leute am Straßenrand zu Fairness auf: „Die Zuschauer dürfen ihren Unmut äußern, müssen aber natürlich die Fahrer respektieren und deren Integrität wahren.“
Froome, der nicht müde wird, sich „als sauber“ zu bezeichnen, nächtliche Doping-Kontrollen befürwortet, mit dem Weltverband UCI kooperiert und unabhängige WADA-Tests anbietet, will sich nicht zermürben lassen. „Wenn das Teil des Prozesses ist, um den Sport besser zu machen, dann gehe ich da durch. Ich gebe das Rennen nicht wegen einiger Kerle auf, die mich beleidigen oder sonst etwas machen“, sagte Froome, der sich „mit dem Erbe, das uns durch unsere Vorgänger hinterlassen wurde“ konfrontiert sieht.
Die Schar seiner öffentlichen Kritiker ist breitgefächert. Neben den bereits erwähnten Jalabert (EPO) und Vasseur (Kokain), die auch ihre Doping-Meriten haben, hatte sich ausgerechnet Lance Armstrong als unqualifizierter Zweifler zu Wort gemeldet. Teile der französischen Presse scheinen mit besonderer Distanz zu Froome und seinem überlegenen Sky-Team ein Gegengewicht zu vergangenen Zeiten schaffen zu wollen. Die Anfänge der Armstrong-Ära waren von breitem, öffentlichem Jubel über den famosen, geheilten Krebspatienten Armstrong begleitet worden.
„Als wir 2014 die Tour verloren, haben uns die Leute geliebt. Was sollen wir machen? Die Leute pfeifen uns aus oder machen sonst was“, ist Froomes Team-Kollege Geraint Thomas einigermaßen ratlos. Genau wie sein Kapitän, der sich als Neuestes auch noch mit dem Vorwurf des „Motordopings“ konfrontiert sieht. „Es scheint, als würde das Rad selbst treten“, hatte Vasseur angemerkt. Jalabert fand die Froome-Gala auf dem Col de la Pierre-Saint-Martin „unangenehm anzusehen“.
Die skurril anmutenden Vorwürfe der mechanischen Manipulation gab es erstmals 2010 gegen Fabian Cancellara bei dessen herausragendem Sieg bei Paris-Roubaix. Inzwischen werden Räder sporadisch auf Motoren gescannt, bislang noch ohne „positiven Befund“. Froomes Rad wurde nach dem Teamzeitfahren getestet.