Glückwünsche von der Gräfin: Kerber nun Nummer eins
New York (dpa) - Als Angelique Kerber am Tag nach der historischen Wachablösung im Damen-Tennis aufwachte, war die SMS von Steffi Graf schon da.
„Sie hat mir heute Morgen eine Nachricht geschrieben. Sie hat mir gratuliert und mir viel Glück für das Finale gewünscht“, erzählte Kerber bei einem einstündigen Interview-Marathon vorbei an acht Kamerateams im Spielergarten der US Open von New York.
Tags zuvor hatte die 28-Jährige aus Kiel an dem wohl aufregendsten Tag ihres Tennis-Lebens nicht nur erstmals das Endspiel in Flushing Meadows erreicht. Sie schaffte es auch 19 Jahre nach Sport-Ikone Graf als erst zweite Deutsche ganz nach oben auf den Tennis-Thron.
Weil die langjährige Ausnahmespielerin Serena Williams im Halbfinale scheiterte, krönte sich die 28-Jährige aus Kiel vor dem Fernseher zur Königin von New York. Den magischen Augenblick erlebte Kerber mit ihrem Trainer Torben Beltz und der Physiotherapeutin Cathrin Junker im Fitnessraum vor dem Bildschirm. Ungläubig schaute sie sich die letzten Ballwechsel des Halbfinals zwischen Serena Williams und Karolina Pliskova im zweiten Obergeschoss des Arthur-Ashe-Stadiums an. Als Williams beim Matchball einen Doppelfehler servierte, verabschiedete sich die Amerikanerin nicht nur aus dem Turnier, sondern verlor mit ihrem Scheitern auch den Spitzenplatz.
„Die Superfrau ist auch nur ein menschliches Wesen“, schrieb die „New York Post“ über die 22-malige Grand-Slam-Turniersiegerin, die es erneut versäumte, mit ihrem 23. Titel Graf hinter sich zu lassen. „Ich glaube, ich habe in dem Moment gar nichts gedacht. Wir waren da zu dritt und haben ein paar Sekunden geschwiegen und dann habe ich gesagt: Okay, jetzt ist es passiert“, erzählte Kerber kurz vor Mitternacht im größten Tennisstadion der Welt.
Und es war so viel passiert an diesem 8. September 2016 im New Yorker Stadtteil Queens. Kerbers Mama Beata war nach dem Final-Einzug ihrer Tochter und der Übernahme von Platz eins in der Weltrangliste völlig nassgeschwitzt vor Anspannung und musste sich erst einmal einen Becher Whiskey-Cola auf der South Plaza in Flushing Meadows gönnen.
„Ich bin sprachlos. Unglaublich, dass beides an einem Tag passiert. Ich bin so stolz auf sie“, sagte die Mutter der jetzt offiziell und schwarz auf weiß dokumentierten besten Tennisspielerin der Welt. „Meine größte Wertschätzung... aber Samstag wird auf Sieg gespielt!!!“, twitterte Boris Becker. „@AngeliqueKerber Nummer 1????! Wahnsinn. Gratuliere. Viel Glück im Endspiel!“, schrieb Basketball-Superstar Dirk Nowitzki. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft übermittelte: „Gratulation @AngeliqueKerber und viel Erfolg im Finale der US Open“.
Vor fünf Jahren noch stand die Linkshänderin aus Kiel kurz davor, alles hinzuschmeißen und ihre Karriere wegen Erfolglosigkeit zu beenden. Doch dann erreichte sie 2011 bei den US Open als Weltranglisten-92. das Halbfinale - und begann einen Triumphmarsch, der sie im New Yorker Spätsommer auf den Tennis-Gipfel führte. Und muss sich nun die ständigen Vergleiche mit Graf anhören.
„Sie war und ist immer mein Vorbild gewesen. Ich kann nicht das Gleiche machen wie Steffi, das ist unmöglich. Sie ist eine Legende, ein Champion.“ Sie könne nur ihren eigenen Weg gehen, sagte Kerber nach ihrem 6:4, 6:3 im Halbfinale gegen die Dänin Caroline Wozniacki und vor dem Endspiel gegen Pliskova.
Gegen die Tschechin hatte Kerber eine Woche vor den US Open im Finale von Cincinnati verloren und die erste Chance auf Platz eins der Weltrangliste verpasst. Nun bietet sich der mit 28 Jahren ältesten Nummer-eins-Debütantin die Chance zur Revanche.
Pliskova allerdings spielt derzeit in der Form ihres Lebens und beförderte vor Serena auch schon deren ältere Schwester Venus aus dem Turnier. Allzu sehr wollte sich Kerber dann aber doch noch nicht mit ihrem dritten Grand-Slam-Finale in diesem Jahr befassen.
Nach dem Triumph bei den Australian Open und dem Endspiel-Einzug in Wimbledon wollte Kerber die Krönung ihrer Wahnsinns-Saison zumindest für ein paar Stunden genießen. Selbst die ausschweifenden Frage-Monologe eines italienischen Reporters ertrug sie mit Langmut und Lächeln und antwortete auf besonderen Wunsch auch auf polnisch.
Die Wandlung der Angelique Kerber vom mental-wackligen und öffentlich-schüchternen jungen Mädchen zur neuen Spitzenkraft im internationalen Tennis manifestiert sich nicht nur auf dem Platz. Kerber ist gereift, körperlich topfit und psychisch so stabil wie die sturmerprobte neue Dachkonstruktion über dem Arthur-Ashe-Stadium.
Dass sie nun tatsächlich von Montag an die beste Tennisspielerin sein wird, muss sie erst einmal sacken lassen. „Ich brauche ein bisschen Zeit, um das alles zu verarbeiten“, sagte Kerber. „Das schwarz auf weiß zu sehen, dass ich die Beste der Welt bin und dass mir das auch nie mehr jemand wegnehmen kann, das ist schon was ganz Besonderes.“