Kerber hat Potenzial zum Wimbledon-Star

London (dpa) - Gegen Angelique Kerbers Halbfinal-Gegnerin hat Steffi Graf noch gespielt. Seit zwei Jahrzehnten prägt Venus Williams Wimbledon mit, selbst gegen die letzte deutsche Gewinnerin trat sie hier in London schon einmal an.

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Als die ältere Williams-Schwester zum ersten Mal auf dem heiligen Rasen triumphierte, war Kerber gerade zwölf Jahre alt. Nun will Deutschlands neuer Tennis-Liebling mit einem Erfolg über die 36-Jährige am Donnerstag erstmals ins Endspiel des wichtigsten Turniers einziehen. Steffi Graf traut ihr das zu: „Angie hat wieder zu ihrer guten Form der Australian Open zurückgefunden. Ich glaube, dass sie jetzt auch Chancen hat, weiter erfolgreich dort zu spielen.“

Kerber selbst bezifferte die Aussichten auf „50:50“. Die Melbourne-Meisterin hat das Potenzial zum Wimbledon-Star. Sie könnte im Finale gegen Serena Williams um den Titel spielen, muss jetzt aber ein reizvolles Duell bewältigen. Fünfmal hat Venus Williams zwischen 2000 und 2008 Wimbledon gewonnen. Sie ist die erfahrenste unter allen anfangs 128 Teilnehmerinnen und die älteste Spielerin unter den besten Vier seit Martina Navratilova vor 22 Jahren. Seit 2009 fehlte ihr Name allerdings, wenn es auf den Rasenplätzen um die Final-Paarungen ging. Vor einigen Jahren wurde bei ihr das Sjögren-Syndrom festgestellt, eine Autoimmunkrankheit.

„Sie muss mich auch erst einmal schlagen. Das Geheimnis wird sein, aggressiv zu spielen“, sagte Kerber. „Es ist Halbfinale bei einem Grand Slam. Ich muss das Spiel selbst in die Hand nehmen.“ Gegen die Weltranglisten-Achte hat die Australian-Open-Siegerin eine positive Bilanz von 3:2.

Sicher wird es für sie wie schon im Viertelfinale gegen die rumänische Weltklassespielerin Simon Halep darauf ankommen, kritische Situationen zu überstehen. Es ist die mentale Ebene, auf der sich Kerber am meisten weiterentwickelt hat. Lange galt sie als eine Spielerin, die in den entscheidenden Momenten Nerven zeigt.

Auf den Rasenplätzen an der Church Road aber bestätigt die Linkshänderin ihre neu gewonnene Stärke und ihren Auftritt vom ersten Grand-Slam-Turnier der Saison. Neben Serena Williams ist Kerber die Einzige in der offenen Damen-Konkurrenz, die 2016 mehr als einmal unter den besten Vier bei den ersten drei Majors steht.

Theoretisch kann die Norddeutsche nicht nur die Nachfolge von Steffi Graf als erste deutsche Wimbledon-Siegerin seit 1996 antreten. Sondern sie kann auch als neue Nummer eins aus London abreisen. Dafür muss sie aber nicht nur ihren zweiten Grand-Slam-Titel feiern, sondern Titelverteidigerin Serena Williams müsste ihr Halbfinale gegen die Weltranglisten-50. Jelena Wesnina aus Russland verlieren. Auf Platz Nummer zwei klettert Kerber in jedem Fall.

In den Monaten nach ihrem Australian-Open-Sieg schien zunächst alles, was Kerber sich aufgebaut hatte, ein wenig zerbrechlich. Ihre Leistungen schwankten, sie musste Enttäuschungen wegstecken. „Das zeigt doch, dass man solch einen Erfolg wie in Australien erst verarbeiten muss“, sagte Bundestrainer Barbara Rittner mit Blick auf Kerbers Erstrunden-Aus bei den French Open.

Die Grand-Slam-Gewinnerin selbst sieht es als schnellen Reifeprozess. Sie scheint gelernt zu haben, sich trotz des Drumherums auf Tennis zu konzentrieren, entspannt zu bleiben, die Aufmerksamkeit nicht als zu intensive Belastung zu nehmen. „Als ich in Paris ankam, habe ich viel mehr Druck gespürt, auch von meiner Seite aus“, sagte Kerber. „Ich bin damit nicht so gut umgegangen auch außerhalb des Platzes.“

Die Schleswig-Holsteinerin ist keine für die bunten Geschichten wie Sabine Lisicki. Sie ist keine Plaudertasche wie die früh gescheiterte Andrea Petkovic. Aus ihr sprudelt das Englisch nicht so heraus wie aus Alexander Zverev. Sie antwortet höflich, auch auf die ewige Frage nach Steffi Graf.

So wissen inzwischen auch englischsprachige Fragesteller, dass sie am liebsten Brot isst, dass sie als Schauspielerin in die Haut von Julia Roberts schlüpfen würde, wie aufgeregt sie den deutschen Fußballern zuschaut. Und wenn es mit dem Wimbledon-Coup klappt, wird sie sicher gern noch mal von ihrer Wette erzählen. Ihr Team um Trainer Torben Beltz müsse dann ein unangenehmes Eisbad nehmen, verriet sie bereits.