Weckruf für Russland - Nur über rasche Reformen nach Rio
Berlin (dpa) - Aufklären, aufräumen, abstrafen: Nach dem Weckruf durch eine historische Strafe will die Sportgroßmacht Russland zügig Reformen einleiten und einen Bann für Olympia in Brasilien abwenden.
Sommerspiele 2016 ohne russische Leichtathleten - erstmals seit dem Boykott 1984?
Mit diesen düsteren Gedanken wollen sich die Mächtigen in Moskau gar nicht erst befassen. Doch wenn den Worten nicht schnell Taten folgen, droht bei den Spielen am Zuckerhut in der olympischen Kernsportart ein „Rio ohne Russen“.
Als Konsequenz aus dem gigantischen Dopingskandal soll die gesamte Führungsriege im russischen Leichtathletik-Verband (WFLA) ausgewechselt werden. Auf einer Sondersitzung am 16. Januar will man neue, unbelastete Funktionäre wählen. Die zweifache Olympiasiegerin Swetlana Masterkowa wolle sich um den Chefposten bewerben, gab das Sportministerium in Moskau bekannt. Eine Kandidatur von Weltklasse-Stabhochspringerin Jelena Issinbajewa sei offen, hieß es.
„Die Politik des IOC ist vollkommen klar: Strafe für die Gedopten und ihre Hinterleute, Schutz für die sauberen Athleten. Und das muss für alle weltweit gelten“, sagte Thomas Bach, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, der Deutschen Presse-Agentur. Die russische Leichtathletik könne ihre größte Krise überwinden, „aber nicht unbeschadet“, betonte Bach. Das IOC werde nicht zögern, „weitreichende Strafen gegen die Betroffenen - insbesondere den Ausschluss von zukünftigen Olympischen Spielen - zu verhängen“.
Zur Bewältigung des Skandals brachte Sportminister Witali Mutko Jelena Issinbajewa als „Reformerin“ ins Spiel. „Belastete Funktionäre werden unseren Verband verlassen müssen“, sagte Mutko dem TV-Sender Rossija-1. Issinbajewa könnte in Rio de Janeiro unter olympischer Flagge an den Start gehen, meinte ihr Trainer Jewgeni Trofimow. „Diese Möglichkeit existiert. Jelena ist sauber und will ihre Unschuld zu beweisen“, sagte er.
In einem Interview der ARD-„Sportschau“ bezeichnete Mutko den Ausschluss von russischen Leichtathleten für Olympia in Rio prinzipiell als nicht möglich. „Ich schließe so einen Verlauf der Entwicklung aus, was das Verbot der Teilnahme der Sportler angeht“, sagte der Vertraute von Kremlchef Wladimir Putin.
Die Chefs signalisierten Kompromissbereitschaft. „Das NOK Russlands ist bereit zu Reformern in Übereinstimmung mit den IAAF-Forderungen und der Anti-Doping-Gesetzgebung“, versicherte NOK-Präsident Alexander Schukow. Dies müsse „durchgreifend und schnell erfolgen, um unseren Athleten die Olympia-Teilnahme zu ermöglichen“.
Die Krise kann nach Meinung von IAAF-Präsident Sebastian Coe nur mit Dialog und Engagement bewältigt werden. „Unsere beste Hoffnung, die sauberen Athleten zu schützen, liegt darin, uns unnachgiebig zu ihnen zu bekennen - nicht nur mit Worten, sondern auch mit unseren Taten“, schrieb der Brite in einer Kolumne im „Telegraph“. „Auf der Straße des Umschwungs könnte es schneller vorangehen, als manche glauben“, meinte Lord Coe. „Aber die Reise zum Wiederaufbau von Vertrauen wird mein Mandat als Präsident überdauern.“
Das IAAF-Council hatte die Gesamtrussische Leichtathletik-Föderation (WFLA) am 13.11. vorläufig aus dem Weltverband ausgeschlossen und damit auf die gravierenden Verletzungen des Anti-Doping-Codes der WADA reagiert. Moskau darf nun bis auf Weiteres keine Sportler zu internationalen Veranstaltungen mehr schicken. Das Verdikt hat eine historische Dimension: Noch nie hatte die IAAF einen nationalen Verband wegen Dopings komplett suspendiert.
Die Sperre tritt nach IAAF-Angaben unverzüglich in Kraft und ist zunächst unbefristet, so dass sie den möglichen Olympia-Bann einschließt. 22 Council-Mitglieder stimmten für den provisorischen Ausschluss, einer votierte dagegen. Der Russe Michail Butow, Council-Mitglied und WFLA-Generalsekretär, durfte nicht abstimmen.
„Die Botschaft hätte nicht stärker sein können“, meinte Coe. Der Weltverband habe die derzeit härtest mögliche Strafe gegen Russland verhängt. „Das war ein beschämender Weckruf, und wir sind uns einig, dass Betrug auf keiner Ebene toleriert werden wird.“
„Alle Offiziellen, Trainer u.a., die in Doping verwickelt sind, werden zur Verantwortung gezogen und bestraft“, hieß es in einer Mitteilung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). „Alle gedopten Athleten werden in Übereinstimmung mit den internationalen Anti-Doping-Regeln sanktioniert“, wurde gefordert. „Alle sauberen Athleten werden geschützt.“
Auch Mutko machte klar, dass Moskau jetzt eher auf Kooperation statt Konfrontation setzt. „Ich bin sicher, dass es gelingt, die Situation bis zu Olympia zu klären. In der russischen Leichtathletik gibt es weder mehr noch weniger Probleme als im Rest der Welt“, sagte er am Samstag. „Ich habe heute mit Sebastian Coe über die weiteren Schritte im Anti-Doping-Kampf gesprochen und hoffe, dass binnen 90 Tagen unsere Mannschaft wieder alle Rechte besitzt.“
Um wieder in die IAAF aufgenommen zu werden, müsse „die neue Föderation eine Liste mit Kriterien erfüllen“, teilte die IAAF mit. In den kommenden Tagen werde der Weltverband ein vierköpfiges Inspektionsteam unter Leitung des Norwegers Rune Andersen einsetzen.
Unterdessen wird die Leichtathletik von einem neuen Korruptionsvorwurf erschüttert. Laut „Sunday Times“ sollen drei kenianische Funktionäre, unter ihnen IAAF-Councilmitglied David Okeyo, sich mit fast 700 000 US-Dollar privat bereichert haben. Das Geld sei ursprünglich von Sponsor Nike an den kenianischen Verband überwiesen worden. Ein Sprecher des Weltverbandes bestätigte der Nachrichtenagentur AP, dass die IAAF bereits ihre Ethikkommission eingeschaltet hat.