Wie Andreas Thom Bayer-Profi wurde

Der Berliner war der erste ostdeutsche Profi, der legal in den Westen wechselte - und Reiner Calmunds Meisterstück.

Andreas Thom (M.) war der erste DDR-Kicker, der in die Bundesliga wechselte.

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Leverkusen. Die Eisenbahn sucht Andreas Thom noch immer vergeblich. Aber das ist ja nur eine Pointe in der Geschichte des Mannes, der inzwischen ziemlich abseits des ganz großen Trubels Trainer der U17-Fußballer von Hertha BSC Berlin ist. Angeblich hat Reiner Calmund Thom eine Eisenbahn für dessen Kinder mitgebracht, als der dicke Fußball-Manager aus dem Westen um die Gunst des Ost-Fußballers warb.

„Die suchen Calmund und ich bis heute vergebens“, hat Thom einmal gesagt, als er wieder einmal über seinen Weg von Ost nach West sprechen musste. Und die Geschichten zu bereinigen versuchte, die dazugedichtet wurden. Dabei braucht es das gar nicht. Die Geschichte ist auch ohne Dichtung verrückt genug.

Sie beginnt mit Reiner Calmund, der damals, 1989, Manager des Bundesligisten Bayer Leverkusen war. Ein wendiges Kerlchen, trotz Leibesfülle immer ein bisschen schneller und geschickter als die anderen. Und blitzschnell, als die DDR auseinanderbrach. Calmund interessierte sich für Fußballer aus dem sozialistischen Deutschland.
Andreas Thom etwa war ein so einzigartiger Kicker, dass ihn die ganze Welt wollte. Torschützenkönig der Oberliga der DDR, im Olympiajahr 1988 Fußballer des Jahres.

Thom vom Stasi-Klub Dynamo Berlin wurde der erste Spieler, der im Dezember 1989 legal von Ost nach West transferiert wurde. Um Thom geschah es, Reiner Calmund hingegen musste dafür sein Meisterstück ablegen. Wieder schneller sein als die anderen. Am Rande der Legalität. Mit einer besonderen Idee: Damals hatte die DDR-Auswahl im Wiener Praterstadion die Chance, sich zum ersten Mal nach 1974 wieder für eine Weltmeisterschaft zu qualifizieren.

Thom und Ulf Kirsten, Matthias Sammer und Thomas Doll, dazu das große Talent Rico Steinmann - das Vorhaben ging rauschend in die Hose, weil die DDR-Kicker längst vom Fußball im kapitalistischen Westen träumten — und nicht von einer WM in Italien mit der DDR. Sechs Tage zuvor war die Mauer gefallen. Und weil das so war, gewann Österreich mit 3:0. Ein Remis hätte gereicht.

Calmund hatte seine Gesandten in Position gebracht. Wolfgang Karnath, der sein Geld als Chemielaborant bei Bayer verdiente und die A-Jugend des Bundesligisten trainierte, war in Wien, nota bene, als Arzt akkreditiert, manche sagen auch als Fotograf — Dichtung und Wahrheit. Karnaths Empfehlung: „Wenn man den vorne rauswirft“, erzählte Calmund einmal, „klettert der hinten durch das Fenster wieder rein.“ Ohne Probleme gelangte Karnath in den Innenraum. Und knüpfte auf der Trainerbank der DDR erste Kontakte zum ausgewechselten Matthias Sammer.

Was er erfuhr, waren die Telefonnummern des heutigen Sportdirektors des FC Bayern — und auch die von Ulf Kirsten und Andreas Thom. Calmund beschaffte sich eine Verhandlungsgenehmigung vom Fußball-Verband der DDR und klingelte 24 Stunden nach dem letzten Länderspiel der DDR an Thoms Haustür in Berlin-Ost. Minuten vergingen, am 12. Dezember war der Vertrag unterzeichnet. Thom wechselte in den Westen und 3,8 Millionen Mark in die Staatskassen der DDR, weil Dynamo der Club von Erich Mielke war. Die Bundesliga hatte ihre erste deutsch-deutsche Sensation.

Am 17. Februar spielte Thom erstmals für Bayer. Beim 3:1 gegen Aufsteiger FC Homburg erzielte er das 1:0 selbst und bereitete die beiden anderen Tore maßgeblich vor.

Das Geniale war, dass sich Calmund in jenem November nicht nur die Unterschriften von Thom sicherte sondern auch jene von Kirsten und Sammer. Angeblich soll auf Intervention von Bundeskanzler Helmut Kohl persönlich der drohende Ausverkauf des DDR-Fußballs verhindert worden sein. Jeder Bundesligist durfte demnach nur zwei Ost-Kicker verpflichten. Kirsten folgte als zweiter Profi zu Bayer, Sammer zerriss seinen Bayer-Vertrag und wechselte zum VfB Stuttgart.