Analyse: Amerikas Angst vor dem Kollaps
Washington (dpa) - US-Präsident Obamas Sorgen mit Blick auf Europas Krise mögen in ihrer Klarheit überraschen - doch schaut Amerika seit langem nervös auf den alten Kontinent. Nichts können die USA weniger gebrauchen als einen neuen Schlag durch die Turbulenzen in der alten Welt.
Diplomatische Zurückhaltung ließ der Präsident einfach beiseite, zu bedrohlich ist das Drama auf der anderen Seite des Atlantiks. „Europa hat derzeit zwar eine geeinte Währung, aber es verfügt über keine abgestimmte Wirtschaftspolitik“, legte Barack Obama jetzt in einem Interview mit dem spanischsprachigen Dienst der Deutschen Presse-Agentur und anderen spanischsprachigen Agenturen den Finger in Europas klaffende Finanz-Wunde. Was dort geschehe, „hat gewaltigen Einfluss auf Amerika, auf unseren gesamten Kontinent, nicht nur auf die USA“. Und auf nichts kann die nach wie vor taumelnde US-Konjunktur derzeit mehr verzichten als auf einen weiteren wirtschaftlichen Mühlstein um den Hals.
Zwar beherrschen die eigenen Schuldenberge, die hartnäckige Arbeitslosigkeit, die schlappe Konjunktur und die karge Auswahl an Gegenmitteln die öffentliche Debatte. Doch wird Europas fruchtloser Kampf gegen die Krise in den USA durchaus wahrgenommen - manchmal mit Kopfschütteln angesichts der immer wieder neuen Anläufe, vor allem aber mit tiefer Sorge. „Die USA könnten leicht in eine neue Rezession rutschen, wenn die Eurozone kollabiert“, befürchtet Douglas Elliott vom renommierten Brookings-Politikinstitut in Washington.
Kein Wunder: Für 300 Milliarden Dollar exportiert die weltgrößte Volkswirtschaft laut Elliott jedes Jahr in die Länder der Eurozone; zwei Fünftel aller im Ausland investierten US-Vermögenswerte befinden sich dort. Amerikas Banken sind über Kreditgeschäfte erheblich mit Geldhäusern und Firmen auf dem alten Kontinent verbandelt.
Und im Kampf gegen die eigenen Schwierigkeiten gehen den USA allmählich die Möglichkeiten aus, oder politische Blockaden verhindern Fortschritte. Selbst im Weißen Haus geht man davon aus, dass Obama neues, rund 450 Milliarden Dollar schweres Job-Programm im Kongress wohl ordentlich Federn lassen wird. Und auch die US-Zentralbank wird wohl kaum abermals die Notenpresse anwerfen, sondern zu zahmeren Mitteln greifen, um die Konjunktur zu befeuern. Jeder in Washington weiß: Bekommt der Präsident die Lage nicht in den Griff, könnte es mit seiner Wiederwahl 2012 düster aussehen.
Immerhin haben die USA mit Blick auf die Euro-Unwägbarkeiten derzeit keine Probleme, ihre Staatsanleihen unters Volk zu bringen - die Renditen befinden sich seit langer Zeit im Tiefflug. Allerdings könnte ein Erstarken des Dollar Amerikas Exporte dämpfen, auf die Präsident Obama im Kampf gegen die Konjunkturschwäche so sehr hofft. Dass der Euro überlebe, sei absolut im Interesse der USA, sagte vor wenigen Tagen US-Finanzminister Timothy Geithner zu Bloomberg TV. „Wir haben ein riesiges Interesse, Europa da durchzuhelfen.“
Die Kommentare aus den USA zu Europas Krise sind derweil von echter Sorge geprägt, nicht von Besserwisserei. Zwar mahnt Obama: „Letztlich müssen sich die großen Länder in Europa und deren politische Führer zusammenfinden und eine Entscheidung darüber fällen, wie sie die Währungsintegration mit einer effektiveren und abgestimmten Haushaltspolitik zusammenbringen.“ Allerdings ist man sich in Washington des komplizierten politischen Gefüges bewusst. „(...) Wenn so viele Länder mit unterschiedlicher Politik und unterschiedlicher ökonomischer Lage versuchen, sich auf einen Weg zu einigen, ist eine Abstimmung schwierig“, weiß auch der Präsident.
Nicht selten erinnert die Amerikaner Europas schwerer Weg zur Einheit auch an die eigene Geschichte. „Die erste US-Verfassung, die Artikel der Konföderation, war so fehlerhaft, dass eine völlig neue Verfassung geschrieben werden musste“, bemerkt Brookings-Experte Elliott. Die gegenwärtige Verfassung indes „schummelt sich um große Probleme im Verhältnis zwischen Bundesregierung und Bundesstaaten herum und, zu unserer Schande, um die Sklaverei.“ In der Folge wäre es in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts beinahe zur Spaltung das Landes gekommen und wenige Jahrzehnte später dann zum Bürgerkrieg.
Mit einer schnellen Lösung der Euro-Turbulenzen und ihrer Ursachen scheint Präsident Obama nicht zu rechnen. Ein „wichtiges Thema auf dem G20-Gipfel im November“ dürften sie seiner Einschätzung nach werden. Bei ihrem Treffen voriges Wochenende in Marseille einigten sich die Finanzminister und Notenbankchefs der sieben wichtigsten Industrieländer (G7) jedenfalls lediglich auf eine „starke Antwort“. Ein konkretes Maßnahmenpaket schnürten sie hingegen nicht.