Analyse: Das Volk übernimmt Kiew
Kiew (dpa) - Kaum hat sich Präsident Janukowitsch abgesetzt, übernimmt blitzschnell das Volk die Straßen von Kiew. In der Residenz des Präsidenten öffnen die Wachen die Türen für Schaulustige. Gespannt wird die Ankunft der Oppositionsheldin Timoschenko erwartet.
Tränen und Siegesfeiern liegen in Kiew nur wenige Hundert Meter auseinander. Stolz ziehen Kämpfer der Opposition durch das Regierungsviertel. Zum Schutz vor Übergriffen auf das Parlament bilden sie einen Wall mit Schilden. Das Signal: Alles läuft geordnet, es gibt kein Chaos. Auf dem Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, trauern Tausende um die Dutzenden Toten der vergangenen Tage. Nun steht hier, auf der großen Bühne, noch der Höhepunkt an: Der erste Auftritt von Oppositionsführerin Julia Timoschenko in Freiheit. Beobachter rechnen mit einem wahren Triumphzug der Ex-Regierungschefin
Allerdings ist ihr Erzfeind, Präsident Viktor Janukowitsch, eigentlich noch im Amt - denn Experten halten seine Amtsenthebung durch das Parlament juristisch zumindest für fragwürdig. Aus dem Osten des Landes hetzt der geflohene Staatschef, seine Gegner seien Nazis, ihre Entscheidungen illegal. Einen Rücktritt schließt er klipp und klar aus. Das ist sein Recht. Doch es wirkt, als klammere er sich an sein Amt.
Denn die Realität überrollt ihn. Fast im Minutentakt verlassen Mitglieder der Regierungspartei die Fraktion. Polizei, Armee, Spezialeinheiten - alle versprechen, sich nicht in den Machtkampf einzuschalten. Der Noch-Präsident hat so gut wie keine Verbündeten mehr. Der mächtige Mann des Landes hat alle Macht verloren.
In Kiew übernimmt derweil das Volk die Stadt - Sicherheitskräfte sind nicht zu sehen. Massen strömen ins Zentrum. Viele haben Blumen bei sich und legen sie auf die Barrikaden, an denen noch vor kurzem tödliche Schüsse fielen. Schweigend trauert die Menge auf dem großen Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan. Priester sprechen Gebete für die Opfer. Auf einem Hügel bilden Windlichter die Worte „Ehre den Helden“. Alle halten inne. Männer entblößen ihr Haupt. Zwei ältere Frauen weinen bitterlich und halten sich aneinander fest.
Auf dem Weg zum Regierungsviertel markieren rote Nelken die Spur des Bluts. Unbekannte Scharfschützen hatten hier gezielt auf Menschen geschossen. Vor dem Präsidentensitz steht eine metallene Absperrung in den blau-gelben Landesfarben. Dahinter haben sich Mitglieder der sogenannten Selbstverteidigungskräfte mit Schilden und Helmen aufgebaut. Eine ältere Frau sagt stolz: „Alles unsere Jungs“. Die Kämpfer grinsen und schieben den Helm noch ein Stück in den Nacken.
Auch vor dem Parlament hat sich eine Menschenmenge versammelt. Hunderte warten auf die Entscheidungen im Inneren. Eine Gruppe selbst ernannter Selbstverteidiger sitzt auf einem Laster mit der rot-schwarzen Fahne der ukrainischen Nationalisten. Passanten fragen: „Jungs, wo fahrt ihr hin?“. „Wir besuchen Janukowitsch“, ruft einer der jungen Burschen übermütig zurück.
An den Barrikaden am Dynamostadion, an denen seit Mitte Januar immer wieder gekämpft wurde, räumen Freiwillige auf. Die Straße ist gefegt, der angrenzende Park wird gereinigt, rasch ist eine Menschenkette gebildet. Rücksichtsvoll lassen die Demonstranten die Passanten durch. Die Wache auf der Barrikade hört Nachrichten. Jubel brandet auf, wenn neue Parlamentsentscheidungen publik werden.
Keine 20 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt: Auch durch Janukowitschs Residenz Meschigorje strömen Schaulustige. Überstürzt, mit wenigen Vertrauten und Leibwächtern, soll Janukowitsch in der Nacht aufgebrochen sein. Nun lassen die Wachen jeden herein, der einmal gucken möchte, wie der Präsident lebt, dem Kritiker Korruption und Vetternwirtschaft vorwerfen. „Aber bitte nicht plündern“, sagen sie noch. Viele Besucher an diesem „Tag der offenen Tür“ sehen sogar ihre kühnsten Vorstellungen noch übertroffen.
Da gibt es einen riesigen Golfplatz, wo behelmte Kämpfer den Schläger schwingen. Da gibt es ein riesiges Segelschiff, eine gewaltige Jacht, ein flottes Motorboot. Schwere Goldmünzen mit Janukowitschs Antlitz. Eine gewaltige Garage voller Luxuswagen. Edle Badezimmer, gar eine Orangerie - es ist ein Anwesen voller Dekadenz und Pracht.
Doch die Schaulustigen, darunter viele Journalisten, finden noch mehr. Aus einem See fischen sie Dokumente, die offenbar eilig vernichtet werden sollten, und trocknen sie in einer Halle. Es sind Listen über horrende Ausgaben, wohl für Renovierungen und Angestellte.
Aber es sind anscheinend auch Dokumente über Personen zu finden, die Janukowitsch als seine Gegner betrachtet. So soll der Name von Tatjana Tschornowol auf einer Schwarzen Liste von Reportern stehen. Unbekannte hatten die investigative Journalistin Ende Dezember massiv verprügelt und lebensgefährlich verletzt. Tschornowol wirft Janukowitsch vor, hinter der brutalen Attacke zu stecken.