Analyse: Der 11. September-Schock sitzt tief

Washington (dpa) - Für einen kurzen Augenblick an diesem sonnigen Spätsommertag scheint die Zeit stillzustehen in den USA. Die lähmende Wirtschaftskrise, das nervige Parteiengezänk, die Arbeitslosigkeit - für ein paar Stunden an diesem 11. September scheint alles vergessen.

Zehn Jahre nach den Terrorattacken - die Trauer eint das politisch zerrissene Land. Ein Lichtblick, ein Hoffnungsschimmer? Amerika ist arg gebeutelt in diesen Wochen und Monaten. Das Land und ihr Präsident kriegen die Krise nicht in den Griff. Die Schulden sind so hoch, dass manche meinen, sie seien kaum noch abzutragen. „Decline“, der Niedergang Amerikas, heißt das böse Stichwort, das mitunter umgeht.

Es wäre verführerisch für Präsident Barack Obama gewesen, die Trauer und den Patriotismus dieses Tages zu nutzen, um durch Worte zu punkten. Doch weil politische Untertöne ausdrücklich unerwünscht waren bei den Gedenkfeiern an diesem Sonntag, musste Obama auf seine traditionelle Wochenendbotschaft ausweichen.

„Die USA sind stärker und Al Kaida ist auf dem Weg zur Niederlage.“ Markige Worte eines Präsidenten, der unter Druck geraten ist. Al Kaida „wollte uns terrorisieren, aber als Amerikaner weigern wir uns, in Angst zu leben“. Das sind Sätze, die die Amerikaner lieben.

Natürlich weist der Präsident ausdrücklich auf den Tod Osama bin Ladens hin, versucht, sich nochmals im Erfolg zu sonnen. Als die Navy-Seals den Terrorchef Anfang Mai erschossen hatten, waren Obamas Popularitätswerte in die Höhe geschnellt - zeitweise zumindest.

Doch trotz allen Pfeifens im Walde - noch ist die Angst vor dem Terror längst nicht verflogen. Wie tief der Schock in den USA sitzt, das zeigen allein die massiven Sicherheitsmaßnahmen an diesem Tag. „Auf dem Weg zur Niederlage“ sei Al Kaida, so Obama - doch die Straßensperren in New York und Washington, die Sicherheitskontrollen in U-Bahnen, das Suchen nach Sprengstoff unter Brücken und an anderen strategischen Punkten sprechen eine andere Sprache. Noch haben die USA das Trauma längst nicht überwunden.

Zehn Jahr nach dem Grauen - Amerika hat sich verändert. Nicht nur was die Ängste und die Sicherheitschecks angeht. In zwei Kriege hat George W. Bush das Land geführt - jetzt ist es Obama, der sie beenden muss. Doch die Truppen kehren nicht im Triumph zurück, Siegesfeiern sind keine angesagt - Obama wäre schon froh, wenn Bagdad und Kabul nicht wieder im Chaos versinken.

„Sie wollten uns in endlose Kriege hineinziehen“, meint Obama zur Strategie von Al Kaida. „Sie wollten unser Stellung in der Welt unterminieren.“

Es ist gar nicht lange her, im Frühjahr 2009, da hatte Obama in seiner berühmten Rede von Kairo der muslimischen Welt die Hand zum Neuanfang ausgestreckt. Doch die große Versöhnungsgeste blieb ohne Folgen. Die Baustellen in der arabisch-muslimischen Welt liegen nach wie vor brach - allen voran der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern.

Als Reaktion auf den 11. September hatte Bush das Konzept der Präventivkriege neu belebt - und die Bereitschaft der USA gestärkt, allein und trotz schwerer Bedenken der Verbündete in den Krieg zu ziehen.

Obama hat mit dieser Strategie gebrochen, will mit den Alliierten näher zusammenrücken - nicht zuletzt, weil Amerika kein Geld mehr für Waffengänge auf eigene Faust hat. Einen Vorgeschmack auf die künftige Strategie Washingtons gab der Waffengang in Libyen. Erstmals saßen die USA bei einer solchen Aktion „in der zweiten Reihe“. Die Hauptlast hatten die Europäer zu tragen.