Analyse: Der „gute Deutsche“ Günter Grass

Berlin (dpa) - Selten erregen literarische Texte eine solche Aufmerksamkeit. Mit seiner Israel-Kritik in Versform erzielt Günter Grass ein Medienecho, wie es Intellektuelle in Deutschland schon lange nicht mehr bekam

Immer wieder hat er getrommelt - war das nun ein Schlag zuviel? Mit seinem Gedicht „Was gesagt werden muss“ und der Israel-Kritik hat Günter Grass mit 84 Jahren entschieden: „Ich schweige nicht mehr.“ Das sagt ein Literaturnobelpreisträger, der sich über mehr als ein halbes Jahrhundert immer wieder zu Wort gemeldet und seinen Namen unter Hunderte Aufrufe und Erklärungen gesetzt hat. Nur zum Verhältnis von Deutschland und Israel schwieg er lang. Nun hat Grass seine Sprache wiedergefunden, um mit dem Staat der Juden abzurechnen. Das hat eine Welle der Empörung ausgelöst und seinen Ruf wohl nachhaltig beschädigt.

Wie wenige Deutsche genießt der Pfeifenraucher mit dem prominenten Schnauzer international ein Prestige jenseits von Claudia Schiffer, Franz Beckenbauer oder der Autos „made in Germany“. Nicht erst seit der Nobelpreis-Ehrung 1999 wird er als wichtigster deutscher Literat des 20. Jahrhunderts wahrgenommen. Seine Bücher wurden in dutzende Sprachen übersetzt, die Auflagen gehen in die Millionen.

Grass war der erste deutsche Schriftsteller, der offiziell 1967 nach Israel eingeladen wurde, wenige Monate vor dem Sechs-Tage-Krieg und zwei Jahre nachdem das Land diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik aufgenommen hatte. Der Autor der „Blechtrommel“ galt als „guter Deutscher“, erinnerte sich der Journalist und Historiker Tom Segev, der Grass damals als Student erlebte.

Auch in seiner Heimat galt Grass als moralische Instanz, mitunter auch als Tabubrecher, seine Stimme zählte. Vergleichbar mit Jean-Paul Sartre oder Albert Camus in Frankreich, ist Grass der prominenteste unter den engagierten Autoren im demokratischen Nachkriegsdeutschland, der auch heftige Anfeindungen aus konservativen Kreisen aushalten musste.

In seinem Intellektuellen-Ranking setzte ihn das Magazin „Cicero“ 2007 auf den dritten Platz hinter dem Papst und Martin Walser. Das mag eine Momentaufnahme gewesen sein. Doch wenn Grass seine Stimme erhebt - das zeigen gerade die Reaktionen auf sein Gedicht -, hören noch immer viele zu.

Sein Schweigen hatte Grass schon einmal gebrochen. 2006 bekannte er in seinen Memoiren „Beim Häuten der Zwiebel“, dass er mit 17 Jahren in die Waffen-SS eingezogen wurde. „Das musste raus, endlich“, erklärte er damals. Auch jenes Bekenntnis erregte eine mediale Welle. Er habe wohl Angst gehabt, dass seine Zugehörigkeit zum berüchtigten Korps seine Position als Mahner schwächen könnte, versuchte Mario Vargas Llosa, ebenfalls Literaturnobelpreisträger und mit Grass in herzlicher Abneigung verbunden, das lange Schweigen zu erklären.

Für einige Verteidiger hat Grass mit seinem Gedicht eine Tugend der Intellektuellen wieder aufleben lassen: Klare Worte der Einmischung „gegen das weichgespülte Talkshowgerede“, wie Klaus Staeck, Präsident der Berliner Akademie der Künste, es ausdrückte. Die Angriffe, die Grass auszuhalten habe, sprächen eine Sprache „nach dem Motto: Misch Dich nicht ein!“, sagte Staeck im Deutschlandradio Kultur. „Das wird sehr viele, glaube ich, abschrecken.“

Staeck trifft einen wunden Punkt. Längst haben Intellektuelle im öffentlichen Diskurs die Deutungshoheit verloren, wie es die allabendlichen Talkrunden beweisen, in der eher Politiker, Lobbyisten und „Betroffene“ zu Gast sind. Und wenn einmal ein Dichter oder Denker Platz auf der Couch nimmt, etwa Richard David Precht, Norbert Bolz oder Peter Sloterdijk, dann handelt es sich um jene „Medienintellektuellen“, die, wie der Soziologe Tilman Reitz schreibt, vor allem darauf bedacht seien, ihren Marktwert zu erhöhen. Über den braucht sich Günter Grass keine Sorgen zu machen.