Analyse: Deutsche Sicherheitspolitik ohne Tabus

Berlin (dpa) - Deutsche Waffenlieferungen in Krisengebiete sind eigentlich verboten. Die Bundesregierung macht für den Kampf gegen die Terrormiliz IS im Irak eine Ausnahme. Sie will damit den Terror stoppen und einen Völkermord verhindern.

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Es gibt aber auch große Risiken.

Unmittelbar vor ihrer Entscheidung über Waffenlieferungen in den Irak wurde der Bundesregierung die Brutalität der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) noch einmal ganz klar vor Augen geführt. Das Propagandavideo von der Enthauptung des US-Journalisten James Foley dürfte sie darin bestärkt haben, sich nicht weiter auf humanitäre Hilfe zu beschränken.

Nach kurzer Beratung entschieden sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) und die Minister Frank-Walter Steinmeier (Außen), Ursula von der Leyen (Verteidigung) und Wolfgang Schäuble (Finanzen) am Mittwoch dafür, ein Tabu in der deutschen Sicherheitspolitik zu brechen: Mit der Lieferung von Waffen will sich die Bundesregierung in einen laufenden Konflikt einschalten.

Die Rüstungsexportrichtlinien verbieten das eigentlich. Sie lassen aber auch Ausnahmen zu, wenn „besondere außen- oder sicherheitspolitische Interessen der Bundesrepublik Deutschland unter Berücksichtigung der Bündnisinteressen für eine ausnahmsweise zu erteilende Genehmigung sprechen“. Einzige Ausnahme waren bisher die Rüstungslieferungen nach Israel, für dessen Existenzrecht Deutschland wegen des Holocaust eine besondere Verantwortung empfindet.

Aber auch die Verhinderung eines Völkermords im Irak und einer Ausbreitung des IS-Terrors - vielleicht sogar bis nach Europa - ist zweifellos im besonderen deutschen Interesse. „Es gibt Situationen, in denen kann man sich durch Unterlassen ebenso schuldig machen wie durch Tun“, sagte Steinmeier.

Nichts getan hat die Weltgemeinschaft zum Beispiel 1994 in Ruanda, als fast eine Million Tutsi innerhalb von drei Monaten niedergemetzelt wurden. Nichts getan hat sie auch 1995 in Srebenica, als 8000 Bosnier von serbischen Einheiten systematisch hingerichtet wurden. Beides sind bis heute mahnende Beispiele, an die im Zuge der Irak-Debatte oft erinnert wird.

Dass Deutschland sich jetzt mit Waffenlieferungen in den Konflikt einschaltet, ist Teil eines Paradigmenwechsels in der deutschen Außenpolitik, der seit Anfang des Jahres vorbereitet wird. Deutschland will sich bei der Lösung internationaler Krisen nicht länger hinter den USA, Frankreich und Großbritannien in der zweiten Reihe verstecken - oder wie Steinmeier es im Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz sagte: Es will nicht mehr an der „Außenlinie“ stehen.

Jetzt ist Deutschland im Irak mittendrin. Wahrscheinlich mit Handfeuerwaffen und Panzerwaffenraketen, vielleicht sogar mit Militär-Ausbildern. Das birgt auch erhebliche Risiken. Haupteinwand ist, dass die Waffen langfristig in die falschen Hände geraten können. Panzerabwehrraketen vom Typ „Milan“, die jetzt für den Irak im Gespräch sind, wurden schon in den Bürgerkriegen in Syrien und Libyen gesichtet. Auch die IS-Milizen sollen über sie verfügen.

Die Raketen wurden seit Anfang der 70er Jahre vom deutsch-französischen Unternehmen Euromissile (heute MDBA) produziert. 350 000 Exemplare gingen in etwa 40 Länder. Wo die in den Bürgerkriegen eingesetzten Raketen ursprünglich herkommen, ist kaum noch nachvollziehbar.

Der Waffenexport ist aber auch politisch extrem heikel. Beliefert werden soll die kurdische Peschmerga-Armee, die an vorderster Front gegen die Islamisten kämpft. Der Kurden-Präsident Massud Barsani strebt die Unabhängigkeit seiner Autonomieregion von der Zentralregierung in Bagdad an. Dass die Waffen irgendwann einmal in einem Unabhängigkeitskrieg eingesetzt werden, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit ausschließen.

Bagdad verlangt deswegen eine Kontrolle der Waffenlieferungen und würde die Rüstungsgüter am liebsten selbst an die Kurden verteilen. Die Bundesregierung will Bagdad einbinden, aber direkt in den Nordirak liefern.

Steinmeier und von der Leyen sind sich der Risiken bewusst. „Wir werden deshalb mit großem Augenmaß hinsichtlich Art und Umfang unserer Lieferungen vorgehen“, sagte der Außenminister am Mittwoch. Nächste Woche Mittwoch soll die Fünfer-Runde unter Leitung Merkels die endgültige Entscheidung über die Waffenlieferungen treffen.