Analyse: Die türkische Außenpolitik liegt in Trümmern
Istanbul (dpa) - Das türkische Horrorszenario ist eingetreten. Sonst tobte der Krieg immer bei den anderen. Aber mit der Offensive militanter Islamisten im Irak wird Ankara immer tiefer in die Unruhen des Nachbarlandes hineingezogen.
Die Entführung von rund 80 Türken im nordirakischen Mossul, unter ihnen der Konsul des Landes, ist eine Kampferklärung an die Türkei. Zugleich bedeutet die Krise einen schweren Rückschlag für den türkischen Versuch, im Nahen Osten eine Führungsrolle zu übernehmen. Die Konflikte im Norden des Iraks und der Bürgerkrieg in Syrien haben die Träume des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, sein Land als starke Regionalmacht zu etablieren, platzen lassen.
Erst Anfang Juni hatte Ankara die international geächtete Terrorgruppe Al-Nusra-Front (Dschabhat al-Nusra) als Terrorgruppe klassifiziert, wie türkische Medien berichteten. Davor habe die Regierung sich für die Terroristen im Nachbarland kaum interessiert, wohl in der Hoffnung, dass diese den syrischen Diktator Baschar al-Assad stürzen könnten. „Die Türkei ging in dem Konflikt von Anfang an sehr nachlässig mit den radikalen Gruppen um“, sagte der Türkei-Kenner Aaron Stein vom Royal United Services Institute in London der dpa.
Nun haben sich die Extremisten gerächt. Die Geiselnahme türkischer Staatsbürger mutmaßlich durch die Terrorgruppe Islamischer Staat im Irak und Syrien (Isis) dürfte eine Reaktion auf Ankaras Ächtung der Al-Nusra-Front sein. Die Türkei musste erkennen, dass sie starke Partner braucht und hat bei einer Nato-Sitzung ihre Verbündeten über die Lage im Irak informiert. Der Türkei-Experte Stein erwartet, dass das einst so selbstbewusste Land nun doch den Verbündeten USA auffordern wird, in der Region einzugreifen.
Die türkische Regierung drohte den Geiselnehmern mit „scharfer Vergeltung“. Niemand solle an der Entschlossenheit seiner Regierung zweifeln, sollte den Türken etwas zustoßen, sagte Außenminister Ahmet Davutoglu am Mittwoch. Gleichzeitig räumte Davutoglu ein, dass alle diplomatischen Gespräche seiner Regierung in Syrien und im Irak ohne Ergebnis geblieben seien.
Unter dem Motto „Null Probleme mit den Nachbarn“ hatte die islamisch-konservative AKP-Regierung im vergangenen Jahrzehnt eine Annäherung an die Nachbarn gesucht. Ankara wollte dabei helfen, die Konflikte im Nahen Osten zu lösen, neue Wirtschaftsbeziehungen aufzubauen - und dabei selbst zur regionalen Vormacht aufsteigen.
Doch mittlerweile liegt die Türkei mit vielen der Nachbarn im Streit. Vor allem der Bürgerkrieg in Syrien führte zu erheblichen Spannungen zwischen Ankara und seinen Anrainern. Nach der Flüchtlingswelle aus Syrien droht jetzt Ähnliches aus dem Irak.
Das Horrorszenario kommt für Erdogan ungelegen. Vor der Präsidentenwahl am 10. August, bei der er nach Ansicht der meisten Beobachter antreten wird, benötigt Erdogan politische Stabilität im Land. Zwar hat die raue Wirklichkeit seine Vision der „Null-Probleme“-Politik zerstört, doch innenpolitisch dürfte dies nach Einschätzung von Experten wenig Einfluss auf das Wählerverhalten nehmen.