Analyse: Direkte Demokratie kann heikel sein
Bern (dpa) - Die Schweizer schätzen ihr System der direkten Demokratie durch Volksabstimnmungen. Aber selten war die Ratlosigkeit nach einer Volksinitiative größer. Der Weg der Schweiz ist plötzlich unklar.
Die nächsten Termine mit Brüssel standen schon fest. Doch statt über den Beitritt der Schweiz zum EU-Strommarkt zu verhandeln, ist für die Regierung in Bern nach dem Beschluss über die Grenzen der Zuwanderung nun Schadenbegrenzung erste Bürgerpflicht.
Die Regierung solle in Brüssel selbstbewusst den „Volkswillen“ erläutern und für den weiteren Zugang zum EU-Binnenmarkt werben, forderte Christoph Blocher von der national-konservativen Schweizer Volkspartei (SVP). Wenig spricht aktuell dafür, dass Bern viel Spielraum haben wird. „Das wird eine Menge Schwierigkeiten für die Schweiz verursachen“, meinte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) stellvertretend für viele Kollegen europaweit.
Am Tag nach der historischen Entscheidung sucht die Regierung in Bern noch nach einem Kurs, der dem Willen der 1,463 Millionen Schweizer entspricht, die am Sonntag der Volksinitiative „gegen Masseneinwanderung“ zum hauchdünnen Erfolg verholfen haben. „Genie und Pragmatismus“ sei nun gefragt, empfahl die Zeitung „Tribune de Genève“.
Die Perspektive ist vor allem aus Sicht der Wirtschaft beunruhigend unklar, es existieren zur konkreten Umsetzung der Initiative noch jede Menge Fragen. Bundespräsident und Außenminister Didier Burkhalter warb deshalb für einen „runden Tisch“.
Die Suche nach der Ursache für das „Ja“ geht weiter. „Die fehlende Angst vor den Folgen des Entscheids war die Basis“, meint der Politologe Michael Hermann von der Universität Zürich. Die Schweiz habe selten internationale Konsequenzen zu spüren bekommen. „Man kommt schon irgendwie durch“ gehöre genauso zur Grunderfahrung wie der Glaube, Wirtschaftswachstum sei selbstverständlich.
Nach dem politischen Erdbeben ist jedenfalls der Graben deutlich geworden, der das Land durchzieht - der zwischen der Deutschschweiz und der französisch-sprachigen Westschweiz: der Röstigraben. Während in der Romandie alle Kantone gegen die Initiative waren, votierten die deutschsprachigen Schweizer meist dafür. Eine durchaus heikle Situation, die aber diesmal nicht zu den tiefen Zerwürfnissen führen werde, wie vor 22 Jahren, sagt der Politologe Lukas Golder vom Forschungsinstitut gfs.bern. „Eine politische Lähmung wie damals ist nicht zu erwarten.“
1992 hatten es die Schweizer in einer Volksabstimmung mit knapper Mehrheit abgelehnt, Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu werden. Europa, nein danke. Die europafreundliche Romandie fühlte sich um eine Vision betrogen. Vereinzelt kam gar der Ruf nach einer autonomen Romandie auf, losgelöst von der europafeindlichen Zentralschweiz. Die Kantone im Westen waren zutiefst frustriert. Erst Mitte der 1990er-Jahre bewegte sich die Schweiz wieder tastend auf Europa zu. Am Ende eines fast 20-jährigen Prozesses stehen viele bilateralen Verträge, die die Schweiz aktuell mit der EU verbinden.
Die Verlierer vom Sonntag, ein breites Bündnis von Politik und Wirtschaft, wollen diesen Weg fortgesetzt sehen. „Eine Isolation der Schweiz inmitten von Europa wäre fatal“, schrieb das Bündnis dazu am Montag.