Analyse: Erfolg bei Terroristenjagd verdeckt Pannen
Washington (dpa) - Ein 19-Jähriger, der aussieht wie ein Junge, fordert die USA heraus. Die Terroristenjagd von Boston mutet an wie der Kampf zwischen David und Goliath. Präsident Obama präsentierte sich als Krisenmanager - doch es bleiben offene Fragen.
Die Erleichterung stand Barack Obama ins Gesicht geschrieben. Trotz Müdigkeit und Erschöpfung trat er noch in der Nacht vor die Kameras. Nur kurz zuvor war eine der größten Verbrecherjagden in der US-Geschichte zu Ende gegangen. Der 19 Jahre alte Verdächtige des Terroranschlags auf den Boston-Marathon wurde schwer verletzt festgenommen, sein 26-jähriger Bruder erschossen. In Boston gingen jubelnde Menschen auf die Straße. „Wir lassen uns nicht terrorisieren“, rief Obama den Amerikanern aus dem Weißen Haus zu.
Es war die Stunde des Präsidenten, die Stunde des Krisenmanagers. Die rasche Festnahme war ein Glücksfall - auch für den Präsidenten. „Wir haben ein wichtiges Kapitel in dieser Tragödie geschlossen“, sagte Obama. Obama weiß: Der Terroranschlag war eine der schwersten Herausforderungen seiner Amtszeit - und sie hätte ganz anders enden können. Die rasche Festnahme des zweiten Terrorverdächtigen war nichts anderes als reiner Zufall.
Tatsächlich mutete die Verfolgung der beiden Brüder aus Kirgistan, mit tschetschenischen Wurzeln, über weite Strecken wie der ungleiche Kampf zwischen David und Goliath an. Das Foto des 19-jährigen Dschochar Zarnajew zeigt einen Jüngling mit dunklen Locken und sanftem Blick - eher ein Junge als ein Mann. Ist das wirklich ein Gegner, der die USA herauszufordern vermag? Ein Megaaufgebot von 9000 Polizisten war mobilisiert, um ihn zu fassen - und wäre doch beinahe grandios gescheitert.
Nicht nur Obama, auch das FBI und die Medien decken gnädig einen Mantel des Schweigens über die Fahndungspanne. Denn das Grundstück, auf dem der 19-Jährige am Freitagabend schließlich umzingelt und nach einem Feuerwechsel gefasst wurde, waren bereits zuvor durchsucht worden - ohne Ergebnis.
Die Polizei hatte praktisch im gesamten Großraum Boston den Ausnahmezustand verhängt: Es herrschte Ausgangssperre, der Verkehr war lahmgelegt. Doch erst ein Hausbesitzer, der in seinem Garten Blutspuren entdeckte, setzte die Polizei auf die richtige Spur. Wieder einmal war es „Kommissar Zufall“, der eine Blamage der Behörden verhinderte. Der junge Mann, der sich unter einer Plane in einem Boot versteckte, war bereits derart schwer verletzt, dass er sich praktisch nicht mehr wehren konnte.
Trotz Jubel und Erleichterung: Obama ist sich bewusst, dass viele Fragen offen bleiben - nicht nur, was die direkte Fahndung angeht. „Warum haben junge Männer, die hier aufgewachsen sind und studiert haben, zu so starker Gewalt gegriffen?“, fragte der Präsident noch in der Nacht.
Irritierend ist nicht nur die Tatsache, dass die Justizbehörden dem älteren Bruder Tamerlan bereits 2011 auf der Spur waren. Eine nicht genannte ausländische Regierung habe damals um Überprüfung des Mannes gebeten. Doch das FBI sei zu keinen Erkenntnissen gekommen. Dabei heißt es jetzt, der heute 26-Jährige habe sich seinerzeit radikalisiert, sei zum islamistischen Eiferer geworden. War auch das schon eine Fahndungspanne gewesen?
Doch Obamas Frage zielt tiefer. 2,6 Millionen Muslime leben in den USA, die meisten sind Einwanderern aus dem Nahen Osten und anderen muslimischen Ländern. Ihre Zahl hat sich seit den Anschlägen vom 11. September 2001 mehr als verdoppelt. Reibereien oder gar schwere Spannungen zur übrigen Bevölkerung werden zwar eher selten publik. Doch Obama weiß, das bei Terroranschlägen Spannungen über Nacht ausbrechen können. Nicht umsonst warnte er noch in der Nacht vor voreiligen Schlüssen. Bisher hatte Obama Fortüne: Seit dem 11. September ist es zu keinem größeren Bombenattentat islamistischer Extremisten in den USA gekommen.
Obama im Glück? Tatsächlich hatte der Präsident erst vor Tagen eine Mega-Schlappe erlitten, die seine gesamte zweite Amtszeit überschatten dürfte. Die Niederlage in Sachen Waffenkontrollen war eine Warnung, dass die Kräfte, die gegen ihn mobilisieren, präsent und stark sind. Vor allem: Nicht mal seine eigene Mehrheit der demokratischen Senatoren stand hinter ihm. Was bleibt Obama jetzt noch zu tun? Er selbst hatte das Thema Waffen zur Chefsache gemacht.
Die Terroristenjagd bot Obama kurzzeitig Gelegenheit, sich als erfolgreicher Krisenmanager zu präsentieren. Doch die Erfahrung zeigt: Solche Erfolge halten nicht lange vor. Selbst der Tod von Terroristenführer Osama bin Laden vor zwei Jahren brachte dem US-Präsidenten nur ein ganz kurzes Hoch ein. Der Erfolg war schnell vergessen.