Analyse: EU in der Flüchtlingskrise gespalten
Brüssel (dpa) - Von vorweihnachtlichem Frieden konnte keine Rede sein. Wenige Tage vor dem Fest schafften es die Staats- und Regierungschefs beim letzten EU-Gipfel des Jahres nicht, ihre Differenzen in der Flüchtlingspolitik zu verhehlen.
Auf den mit Weihnachtsbäumen geschmückten Fluren und im Sitzungssaal in Brüssel waren die Mienen betreten, die Stimmung gereizt.
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, Gast beim Gipfel und seit über 20 Jahren in der europäischen Politik aktiv, bescheinigte der EU ein „Annus horribilis“. Ein solches Jahr mit Terror, ökonomischen und sozialen Krisen „sowie einem Auseinanderdriften der Mitgliedstaaten, wie es noch nie der Fall war - ein solches Jahr habe ich jedenfalls noch nicht erlebt und kann nur hoffen, dass es 2016 besser wird“.
Schon vor dem Gipfel wurde die Spaltung der Union in der alles überschattenden Flüchtlingsfrage deutlich. Wenige Stunden zuvor berieten elf Länder - darunter Deutschland und Österreich - mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, wie viele der rund zwei Millionen syrischen Flüchtlinge sie der Türkei abnehmen können. Auf freiwilliger Basis, versteht sich. Drei Milliarden Euro gibt die EU für die Versorgung - und hofiert Ankara neuerdings wieder.
Wegen der festgefahrenen Fronten setzt Bundeskanzlerin Angela Merkel darauf, im kleinen Kreis Fortschritte zu erreichen. Das ist in der EU durchaus üblich, wenn gar nichts geht. Die Kanzlerin beruhigte die anderen: „Niemand muss sich beteiligen.“
Trotz aller Beschwichtigungsversuche rief der „Club der Willigen“, wie die elf Länder auch genannt werden, deutlichen Unmut hervor. Immerhin fehlten ja 17 Staaten bei dem Mini-Gipfel, also die Mehrheit. Schulz kritisierte die Abwesenden: „Das geht nicht, und die Spaltung der Europäischen Union in dieser Frage ist unübersehbar.“
Unbeliebt machte sich Österreich als Gastgeber des Vor-Gipfels mit einer Drohung. Wer als EU-Mitglied keine Flüchtlinge aufnehmen wolle, müsse mit finanziellen Konsequenzen rechnen, deutete Bundeskanzler Werner Faymann an - und schimpfte über den Egoismus der Staaten: „Also zu sagen, wenn es mir nützt, bin ich für Europa, und wenn es mir gerade nicht nützt, bin ich wieder gegen Europa, so geht's nicht.“ Alle 28 EU-Länder müssten die Last gemeinsam tragen - sonst funktioniere es nicht.
Eine dauerhafte Verteilung stand gar nicht erst auf der Agenda des Gipfels - zu aussichtslos ist diese Idee, auch wenn Deutschland dahinter steht. Das Thema der Umverteilung gilt inzwischen als peinlich. Es ist der beste Beweis dafür, dass die Staaten unfähig sind, sich zu einigen. 160 000 Asylberechtigte, die schon in Italien und Griechenland sind, sollen verteilt werden.
De facto ist der Plan gescheitert. Nur eine verschwindend geringe Zahl haben die Staaten seit September geschafft, nach neuesten Zahlen der EU-Kommission sind es exakt 232 Migranten. Lediglich 14 EU-Staaten haben zudem Plätze in Aussicht gestellt, diese Zahl beläuft sich auf 3827. Deutschland, wo die meisten ankommen, hat 30 Plätze zugesagt, das ist vor allem symbolisch gemeint. Das überlastete Schweden steigt aus.
Deutschland machte auch beim Grenzschutz Druck und stellte sich hinter den Vorschlag der EU-Kommission, dass an Außengrenzen Grenzschützer aus anderen Ländern auch gegen den Willen eines Staates aktiv werden können. Dies solle bis zum Sommer beschlossen werden, forderte Merkel bei der Sitzung laut EU-Diplomaten. Gemeint ist dabei vor allem Griechenland.
Das sorgt für Zoff: „Es bringt doch nichts, auf Griechenland und Italien einzuschlagen“, meinte ein EU-Diplomat kopfschüttelnd. Die Griechen fürchten die Drohung, aus der grenzkontrollfreien Schengen-Zone ausgeschlossen zu werden. Zudem hat Athen im Rahmen der Schuldenkrise schon sehr viel Souveränität abgegeben - noch mehr wäre wohl schwer zu ertragen.
Einen solchen Eingriff in die ureigensten Rechte und die Souveränität der Nationalstaaten halten einige für unerhört. „Wir wiederholen, dass jede andere Maßnahme erst dann diskutiert werden kann, wenn die Europäische Union die Kontrolle über ihre Außengrenzen wiedergewonnen hat, den Anstrom von illegalen Migranten eindämmt und die bisher getroffenen Maßnahmen neu bewertet“, erklärte die Visegrad-Gruppe, zu der Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien gehören.
Wie das neue Jahr nun wird? Parlamentspräsident Schulz hofft, dass alles besser wird. Eine weise und zugleich ausweichende Antwort gibt Kommissionspräsident Juncker. Auf die Frage einer Journalistin, ob dies das schwierigste Jahr überhaupt war, antwortet der 61-Jährige: „Sie sind zu jung, um das zu wissen - und ich auch.“