Analyse Analyse: Europa braucht die Türkei in der Flüchtlingskrise

Istanbul/Brüssel (dpa) - Nichts geht ohne Ankara: Der ewige EU-Beitrittskandidat Türkei ist für die EU zum unverzichtbaren Partner in der Flüchtlingskrise geworden.

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Dass ihm bewusst ist, dass Brüssel ihn braucht, war dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan bei seinem Besuch in der EU-Hauptstadt anzumerken. Bei seinem öffentlichen Auftritt mit EU-Ratspräsident Donald Tusk streifte er das Thema Migration - und verlangte dann Rücksicht für sein Vorgehen gegen Kurdenverbände.

„Wir können hier nicht von einem guten Terroristen im Gegensatz zu einem schlechten Terroristen sprechen“, sagte Erdogan, der die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) mit der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) und der kurdischen Arbeiterpartei PKK gleichstellte. „Ich glaube aus ganzem Herzen daran, dass unsere europäischen Freunde die nötige Sensibilität für diesen Punkt an den Tag legen werden.“ Die PKK wird von der Türkei, der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft.

Die Flucht Hunderttausender Syrer über die Türkei nach Europa zwingt die EU zur Kooperation mit einem Land, das in Sachen Pressefreiheit und seinem Verhalten im Kurdenkonflikt immer wieder in der Kritik steht. Die Grünen hatten schon vor der Reise Erdogans vor einem „schmutzigen Deal“ gewarnt, bei dem die EU beide Augen zudrücke, wenn etwa die Türkei im Umgang mit den Kurden Menschenrechte verletze.

Ginge es nach dem Willen der EU, sollten die Flüchtlinge in der Türkei bleiben und das Land seine Grenzen besser sichern. Nach Berichten der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (FAS) lag schon ein Plan zur besseren Zusammenarbeit auf dem Tisch. Diplomaten bestätigten in allgemeiner Form, es gebe einen Aktionsplan. Doch rasche Entschlüsse seien nicht zu erwarten. Vor den Wahlen am 1. November werde sich die Türkei wohl nicht auf konkrete Zusagen einlassen. Vom Erdogan-Besuch versprach man sich vor allem einen Fahrplan. „Es kann nur der Anfang eines Prozesses sein“, hieß es in Brüssel.

Angedacht ist laut FAS, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex etwa gemeinsame Patrouillen der türkischen und griechischen Küstenwache koordiniert. In der Türkei sollen demnach, zusätzlich zu den 25 bestehenden, sechs neue Flüchtlingslager entstehen. Die EU-Staaten würden sich im Gegenzug verpflichten, Flüchtlinge aufzunehmen. Auch finanzielle Unterstützung will die EU zusichern. Die Staats- und Regierungschefs hatten bereits im September beschlossen, dass die Türkei bis zum nächsten Jahr eine Milliarde Euro für Flüchtlingslager bekommen soll. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker wollte seinem Freund Erdogan eine gemeinsame Migrationsagenda vorschlagen, erklärte er. „Ich würde sehr gerne sehen, dass es in der Visa-Frage vorwärts geht, dass das beschleunigt wird. In bin der Meinung (...), dass die Türkei auf der Liste der sicheren Staaten sehen sollte.“

Ohne substanzielle Gegenleistung wird sich die Türkei jedoch kaum auf die Forderungen der EU einlassen. Erdogan habe im Gespräch mit ihm die Frage von Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger aufgebracht, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl nannte diese und ähnliche Überlegungen angesichts des wieder aufflammenden Konflikts zwischen Ankara und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK „zynisch“.

Selbst wenn beide Seiten ihre Zusammenarbeit vertiefen, dürften nicht weniger Menschen versuchen, nach Europa zu gelangen. Schon jetzt bleibt nur ein kleiner Teil der syrischen Flüchtlinge in einem der 25 Flüchtlingslager. Sie beschreiben das Leben dort als perspektivlos. Die Bedingungen außerhalb der Lager sind jedoch schlecht. Syrische Flüchtlinge haben keine Arbeitserlaubnis, viele können sich die Miete nicht leisten und leben auf der Straße oder in Ruinen. Solange die Türkei den syrischen Flüchtlingen keine Perspektive bietet, solange werden sie weiter versuchen, nach Europa zu gelangen.